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Dan Lyons war einst Redaktor bei «Newsweek», einem der angesehensten Nachrichtenmagazine der Welt. Heute ist das Magazin nur noch ein Schatten seiner selbst und Lyons versuchte sein Glück deshalb in der Kommunikationsabteilung eines IT-Start-ups. Dort stösst er auf ein erstaunliches Phänomen: Entlassungen werden neuerdings «erfolgreiche Absolvierung» (Graduation) genannt, und sie werden nicht bedauert sondern gefeiert.
Konkret sieht das wie folgt aus. Wird jemand gefeuert, dann verschickt der Gruppenchef ein Mail mit folgendem Inhalt: «Team, wir wollen euch bloss mitteilen, dass Person X soeben erfolgreich abgeschlossen hat und wir sehr erfreut sind, dass sie nun ihre Superpower beim nächsten grossen Abenteuer anwenden wird.»
Wie widerlich dieses Vorgehen sein kann, zeigt Lyons am Beispiel einer 35-jährigen Kollegin auf. Sie war vier Jahre lang für das Unternehmen tätig. Eines Tages erklärte ihr 28-jähriger Vorgesetzter, sie hätte zwei Wochen, um zu verschwinden. Am letzten Tag organisierte er eine Abschiedsparty für sie und verabschiedete sie mit Worten wie «Wir sind alle Rockstars» und «Wir werden die Welt verändern».
Bis vor kurzem haben Tech-Firmen alles unternommen, um ihre Mitarbeiter an sich zu binden, sei es mit Stockoptions, Gratiskantinen oder den verschiedensten Vergütungen. Heute herrscht nackter Zynismus. Als Amazon vor rund einem Jahr von der «New York Times» wegen seiner rüden Firmenkultur kritisiert wurde, entgegnete Jeff Bezos kaltschnäuzig: «Wir haben noch nie behauptet, unser Vorgehen sei das richtige – nur, dass es unser Vorgehen ist.» Im Klartext: Wem es nicht passt, der kann gehen.
Diese «Wem-es-nicht-passt-der-kann-gehen»-Kultur ist im digitalen Zeitalter auf dem Vormarsch, und zwar nicht nur bei ungelernten und schlecht bezahlten Angestellten. Mitarbeiter werden – wie es so schön heisst – empowert, um dann als Wegwerfartikel behandelt zu werden. Loyalität zum Unternehmen, einst eine Tugend, ist zur lästigen Eigenschaft von Sozialromantikern verkommen.
Willkommen in der schönen neuen Welt des Prekariats. So nennt man die neue Gesellschaftsordnung, die sich im Zeitalter der vierten Industriellen Revolution abzuzeichnen beginnt. Der britische Sozialwissenschaftler und Professor Guy Standing hat diese neue Klasse untersucht und in seinem Buch «The Precariat» beschrieben.
Wer in prekären Verhältnissen arbeitet, dem fehlt vor allem eines: Sicherheit. Sie oder er ist nicht geschützt gegen willkürliche Entlassungen, ist schlecht versichert, oft unregelmässig beschäftigt und bezahlt und selten organisiert.
Die Anzahl der Menschen, die im Prekariat leben, nimmt rasch zu. Standing geht davon aus, dass in vielen Ländern bereits ein Viertel der Erwerbstätigen davon betroffen ist und dass – ausser einer gut abgesicherten Elite – potenziell alle gefährdet sind.
Allmählich entsteht so eine neue Hierarchie der Gesellschaft: Zuoberst thront eine absurd reiche Elite. Dann folgt das «Salariat», eine Schicht von Managern, die auf stabile Einkommen und Sozialleistungen zählen können. Diese Schicht findet man im Management von Konzernen oder auf den Chefposten der öffentlichen Verwaltung.
Was Standing die «Proficians» nennt, folgt als nächstes. Darunter versteht man gut ausgebildete Facharbeiter, die sich als Einzelmasken für spezielle Projekte engagieren lassen und dabei gut verdienen können. Sie haben deshalb kein Interesse mehr, sich fest anstellen zu lassen.
Die traditionelle Arbeiterklasse ist stark am Schrumpfen. Für sie wurde einst der Sozialstaat geschaffen, doch die Gewerkschaften verlieren an Einfluss und der Zusammenhalt in der Gemeinschaft nimmt ab. «Unterhalb dieser vier Gruppen entsteht ein wachsendes Prekariat», schreibt Standing, «flankiert von einer Armee von Arbeitslosen und einer Gruppe von Menschen, die sich völlig von der Gesellschaft abgewandt haben.»
Wer in prekären Verhältnissen lebt, hat permanent Stress – und muss dazu auch noch gute Miene zum bösen Spiel machen. Die amerikanische Journalistin Babara Ehrenreich hat in ihrem Buch «Smile oder Die» aufgezeigt, wie sich auch der Mittelstand auf dem modernen Arbeitsmarkt geradezu prostituieren und dabei auch noch stets lächeln muss.
Ehrenreich hat sich um verschiedenste Jobs in der PR-Branche beworben und dabei ein ähnlich zynisches Verhalten wie ihr «Newsweek»-Kollege Lyons beobachtet. Wer nicht positiv denkt, ist weg vom Fenster. Entlassungen werden als Chance für neue Optionen gefeiert. «Im grossen Ganzen haben Amerikas mittelständische Angestellte das positive Denken als Ersatz für Wohlstand und Sicherheit akzeptiert», lautet Ehrenreichs deprimierendes Fazit ihres Undercover-Einsatzes.
Jeder zweite amerikanische Arbeitsplatz ist in der vierten Industriellen Revolution in Gefahr, durch eine Maschine ersetzt zu werden. Zu diesem Ergebnis gelangen die beiden Oxford-Professoren Carl Frey und Michael Osborne. Die Ökonomen der Bank of England rechnen mit einem Verlust von 15 Millionen Jobs auf der Insel.
In Deutschland ist der Trend zu «atypischer Beschäftigung» ebenfalls stark ausgeprägt. So schreibt Marcel Fratzscher in seinem Buch «Verteilungskampf»: «Mehr als ein Drittel aller Jobs in Deutschland war entweder temporär begrenzt, wurde in Teilzeit oder in Selbstständigkeit ausgeübt.» Für die Schweiz dürfte die Entwicklung ähnlich aussehen.
Digitalisierung und Migration werden die Prekarisierung der Arbeitswelt noch beschleunigen. Wie im 19. Jahrhundert droht damit eine Verelendung einer breiten Bevölkerung. Die Verelendungsthese von Marx und Engels wurde letztlich zwar widerlegt, doch der Wohlstand der Massen wuchs erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst hat die Industrielle Revolution jahrzehntelang Massenarmut erzeugt. Als 1848 das Kommunistische Manifest erschien, war diese Entwicklung noch in vollem Gange.
Eine ähnliche Verelendungswelle könnte im Zuge der vierten Industriellen Revolution über uns hereinbrechen. Zwar macht der technische Fortschritt die Wirtschaft als Ganzes produktiver, doch die Früchte dieses Fortschrittes werden sehr ungleich verteilt.
Die Gleichung höhere Produktivität gleich höhere Löhne geht schon längst nicht mehr auf. Im Gegenteil: Weltweit beklagen die Ökonomen eine so genannte «säkulare Stagnation». Darunter verstehen sie einen Nachfragenotstand, weil die Kaufkraft der Massen kleiner wird. Mit Negativzinsen und einer Geldschwemme versuchen die Zentralbanken, gegen diese Entwicklung anzukämpfen, zunehmend erfolglos.
Sollte es nicht gelingen, die säkulare Stagnation zu überwinden, dann wird aus dem Prekariat die neue gefährliche Klasse. Der Erfolg des Neoliberalismus habe ein «erwachendes politisches Monster» erzeugt, warnt Guy Standing.
Die traditionelle Linke ist im Kampf gegen dieses Monster wenig hilfreich. «Gewerkschaften kämpfen für mehr Jobs und einen grösseren Anteil am Kuchen», schreibt Standing. «(...) Sie machen zwar Gesten an die Arbeitslosen und die grünen Anliegen. Aber sobald es zu einem Konflikt zwischen den finanziellen Interessen ihrer Mitglieder und sozialen oder ökologischen Themen kommt, entscheiden sie sich zugunsten ihrer Mitglieder.»
Die fortschreitende Prekarisierung der Arbeitswelt zeigt bereits jetzt alle Symptome des «politischen Monsters», vor dem Standing warnt. Die Erfolge eines Donald Trump, aber auch der Vormarsch von faschistoiden Rechtsparteien in Europa, sprechen eine deutliche Sprache. Prekarisierung erzeugt Angst. Angst ist zwar ein Teil der Freiheit, aber zu viel Angst wird zur Bedrohung der Freiheit. «Wird diese Angst nicht gemässigt und in sichere Bahnen gelenkt, dann droht die Gefahr, dass sie in irrationale Hysterie abgleitet», warnt Standing.