
Nur wer positiv denkt, erhält einen Job in diesem australischen Restaurant.
Bild: DAVID GRAY/REUTERS
Die vierte Industrielle Revolution macht Schluss mit
der alten Gesellschaftsordnung von Adel,
Bürgertum und Arbeiter. Quer durch alle Schichten entsteht eine neue gefährliche Klasse: das Prekariat.
19.04.2016, 09:1121.04.2016, 05:25

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Dan Lyons war einst
Redaktor bei «Newsweek», einem der angesehensten Nachrichtenmagazine der Welt.
Heute ist das Magazin nur noch ein Schatten seiner selbst und Lyons versuchte
sein Glück deshalb in der Kommunikationsabteilung eines IT-Start-ups. Dort stösst
er auf ein erstaunliches Phänomen: Entlassungen werden neuerdings «erfolgreiche
Absolvierung» (Graduation) genannt, und sie werden nicht bedauert sondern
gefeiert.
«Wir haben noch nie behauptet, unser Vorgehen sei das richtige – nur, dass es unser Vorgehen ist.»
Jeff Bezos, Amazon
Konkret sieht das wie
folgt aus. Wird jemand gefeuert, dann verschickt der Gruppenchef ein Mail mit
folgendem Inhalt: «Team, wir wollen euch bloss mitteilen, dass Person X soeben
erfolgreich abgeschlossen hat und wir sehr erfreut sind, dass sie nun ihre
Superpower beim nächsten grossen Abenteuer anwenden wird.»
Rockstar – und gefeuert
Wie widerlich dieses
Vorgehen sein kann, zeigt Lyons am Beispiel einer 35-jährigen Kollegin auf. Sie
war vier Jahre lang für das Unternehmen tätig. Eines Tages erklärte ihr 28-jähriger
Vorgesetzter, sie hätte zwei Wochen, um zu verschwinden. Am letzten Tag
organisierte er eine Abschiedsparty für sie und verabschiedete sie mit Worten
wie «Wir sind alle Rockstars» und «Wir werden die Welt verändern».

Amazon-Chef Jeff Bezos ist die Verkörperung des neuen IT-Zynismus.Bild: Getty Images North America
Bis vor kurzem haben
Tech-Firmen alles unternommen, um ihre Mitarbeiter an sich zu binden, sei es
mit Stockoptions, Gratiskantinen oder den verschiedensten Vergütungen. Heute
herrscht nackter Zynismus. Als Amazon
vor rund einem Jahr von der «New York Times» wegen seiner rüden Firmenkultur
kritisiert wurde, entgegnete Jeff Bezos
kaltschnäuzig: «Wir haben noch nie behauptet, unser Vorgehen sei das
richtige – nur, dass es unser Vorgehen ist.» Im Klartext: Wem es nicht passt,
der kann gehen.
Die reichsten IT-Unternehmer der Welt
1 / 15
Die reichsten IT-Unternehmer der Welt
1. Jeff Bezos, Gründer und CEO von Amazon.com: 32 Milliarden.
quelle: epa/epa / jagadeesh nv
Die «Wem-es-nicht-passt»-Kultur
Diese «Wem-es-nicht-passt-der-kann-gehen»-Kultur
ist im digitalen Zeitalter auf dem Vormarsch, und zwar nicht nur bei
ungelernten und schlecht bezahlten Angestellten. Mitarbeiter werden – wie es so
schön heisst – empowert, um dann als Wegwerfartikel behandelt zu werden.
Loyalität zum Unternehmen, einst eine Tugend, ist zur lästigen Eigenschaft von Sozialromantikern
verkommen.
Willkommen in der
schönen neuen Welt des Prekariats. So nennt man die neue Gesellschaftsordnung, die sich im Zeitalter
der vierten Industriellen Revolution abzuzeichnen beginnt. Der britische Sozialwissenschaftler und
Professor Guy Standing hat diese neue Klasse untersucht und in seinem Buch «The
Precariat» beschrieben.

US-Vize Joe Biden beim Treffen der globalen Elite in Davos.Bild: EPA/KEYSTONE
Wer in prekären
Verhältnissen arbeitet, dem fehlt vor allem eines: Sicherheit. Sie oder er ist
nicht geschützt gegen willkürliche Entlassungen, ist schlecht versichert, oft
unregelmässig beschäftigt und bezahlt und selten organisiert.
Die neue Gesellschaftshierarchie
Die Anzahl der
Menschen, die im Prekariat leben, nimmt rasch zu. Standing geht davon aus, dass
in vielen Ländern bereits ein Viertel der Erwerbstätigen davon betroffen ist
und dass – ausser einer gut abgesicherten Elite – potenziell alle gefährdet
sind.
Allmählich entsteht
so eine neue Hierarchie der Gesellschaft: Zuoberst thront eine absurd reiche
Elite. Dann folgt das «Salariat», eine Schicht von Managern, die auf stabile
Einkommen und Sozialleistungen zählen können. Diese Schicht findet man im
Management von Konzernen oder auf den Chefposten der öffentlichen Verwaltung.
Die klassische Arbeiterklasse schrumpft
Was Standing die «Proficians» nennt, folgt als nächstes.
Darunter versteht man gut ausgebildete Facharbeiter, die sich als Einzelmasken für
spezielle Projekte engagieren lassen und dabei gut verdienen können. Sie haben
deshalb kein Interesse mehr, sich fest anstellen zu lassen.
«Im grossen Ganzen haben Amerikas mittelständische Angestellte das positive Denken als Ersatz für Wohlstand und Sicherheit akzeptiert.»
Barbara Ehrenreich
Die traditionelle
Arbeiterklasse ist stark am Schrumpfen. Für sie wurde einst der Sozialstaat
geschaffen, doch die Gewerkschaften verlieren an Einfluss und der Zusammenhalt
in der Gemeinschaft nimmt ab. «Unterhalb dieser vier Gruppen entsteht ein
wachsendes Prekariat», schreibt Standing, «flankiert von einer Armee von
Arbeitslosen und einer Gruppe von Menschen, die sich völlig von der
Gesellschaft abgewandt haben.»

Roboter als Jobkiller.
Bild: STAFF/REUTERS
Wer in prekären
Verhältnissen lebt, hat permanent Stress – und muss dazu auch noch gute Miene
zum bösen Spiel machen. Die amerikanische Journalistin Babara Ehrenreich hat in
ihrem Buch «Smile oder Die» aufgezeigt, wie sich auch der Mittelstand auf dem
modernen Arbeitsmarkt geradezu prostituieren und dabei auch noch stets lächeln
muss.
Die vierte Industrielle Revolution frisst Jobs
Ehrenreich hat sich
um verschiedenste Jobs in der PR-Branche beworben und dabei ein ähnlich
zynisches Verhalten wie ihr «Newsweek»-Kollege Lyons beobachtet. Wer nicht
positiv denkt, ist weg vom Fenster. Entlassungen werden als Chance für neue
Optionen gefeiert. «Im grossen Ganzen haben Amerikas mittelständische
Angestellte das positive Denken als Ersatz für Wohlstand und Sicherheit
akzeptiert», lautet Ehrenreichs deprimierendes Fazit ihres Undercover-Einsatzes.
Jeder zweite
amerikanische Arbeitsplatz ist in der vierten Industriellen Revolution in
Gefahr, durch eine Maschine ersetzt zu werden. Zu diesem Ergebnis gelangen die
beiden Oxford-Professoren Carl Frey und Michael Osborne. Die Ökonomen der Bank
of England rechnen mit einem Verlust von 15 Millionen Jobs auf der Insel.
In Deutschland ist der Trend zu «atypischer Beschäftigung» ebenfalls stark ausgeprägt. So schreibt Marcel Fratzscher in seinem Buch «Verteilungskampf»: «Mehr als ein Drittel aller Jobs in Deutschland war entweder temporär begrenzt, wurde in Teilzeit oder in Selbstständigkeit ausgeübt.» Für
die Schweiz dürfte die Entwicklung ähnlich aussehen.
Hatte Marx doch Recht?
Digitalisierung und
Migration werden die Prekarisierung der Arbeitswelt noch beschleunigen. Wie im
19. Jahrhundert droht damit eine Verelendung einer breiten Bevölkerung. Die
Verelendungsthese von Marx und Engels wurde letztlich zwar widerlegt, doch der
Wohlstand der Massen wuchs erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst hat
die Industrielle Revolution jahrzehntelang Massenarmut erzeugt. Als 1848 das
Kommunistische Manifest erschien, war diese Entwicklung noch in vollem Gange.

Flüchtlinge als unerwünschte Konkurrenz.
Bild: Keystone
Eine ähnliche
Verelendungswelle könnte im Zuge der vierten Industriellen Revolution über uns
hereinbrechen. Zwar macht der technische Fortschritt die Wirtschaft als Ganzes
produktiver, doch die Früchte dieses Fortschrittes werden sehr ungleich
verteilt.
Die Gleichung höhere
Produktivität gleich höhere Löhne geht schon längst nicht mehr auf. Im
Gegenteil: Weltweit beklagen die Ökonomen eine so genannte «säkulare Stagnation». Darunter verstehen sie einen Nachfragenotstand, weil die Kaufkraft der Massen kleiner wird. Mit Negativzinsen und einer Geldschwemme
versuchen die Zentralbanken, gegen diese Entwicklung anzukämpfen, zunehmend
erfolglos.
«Wird die Angst nicht gemässigt und in sichere Bahnen gelenkt, dann droht die Gefahr, dass sie in irrationale Hysterie abgleitet»
Guy Standing
Sollte es nicht
gelingen, die säkulare Stagnation zu überwinden, dann wird aus dem Prekariat
die neue gefährliche Klasse. Der Erfolg des Neoliberalismus habe ein
«erwachendes politisches Monster» erzeugt, warnt Guy Standing.
Warum die traditionelle Linke keine Rezepte hat
Die traditionelle
Linke ist im Kampf gegen dieses Monster wenig hilfreich. «Gewerkschaften
kämpfen für mehr Jobs und einen grösseren Anteil am Kuchen», schreibt Standing.
«(...) Sie machen zwar Gesten an die Arbeitslosen und die grünen Anliegen. Aber
sobald es zu einem Konflikt zwischen den finanziellen Interessen ihrer
Mitglieder und sozialen oder ökologischen Themen kommt, entscheiden sie sich
zugunsten ihrer Mitglieder.»
Die fortschreitende
Prekarisierung der Arbeitswelt zeigt bereits jetzt alle Symptome des
«politischen Monsters», vor dem Standing warnt. Die Erfolge eines Donald Trump,
aber auch der Vormarsch von faschistoiden Rechtsparteien in Europa, sprechen
eine deutliche Sprache.
Prekarisierung
erzeugt Angst. Angst ist zwar ein Teil der Freiheit, aber zu viel Angst wird
zur Bedrohung der Freiheit. «Wird diese Angst nicht gemässigt und in sichere
Bahnen gelenkt, dann droht die Gefahr, dass sie in irrationale Hysterie
abgleitet», warnt Standing.
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