Literatur
Gesellschaft & Politik

Die Hälfte unserer Bibliotheken ist nur zum Blöffen da

Wovon viele heimlich träumen: Eine Bibliothek wie diese zu besitzen. Holländische Heimbibliothek, Mitte des 17. Jahrhunderts erbaut.
Wovon viele heimlich träumen: Eine Bibliothek wie diese zu besitzen. Holländische Heimbibliothek, Mitte des 17. Jahrhunderts erbaut.bild: homeadverts

Die Hälfte unserer Bibliotheken ist nur zum Blöffen da: der grosse Bücher-Bschiss-Report

Es handelt sich hier um eine ästhetische Form des Bildungsbetrugs: Regale, randvoll mit Shakespeare, Tolstoi, Thomas Mann und all den anderen. Doch viele dieser Werke sind da extrem jungfräulich eingereiht worden. Der Report über die triste Wahrheit hinter den potemkinschen Bibliotheken des hiesigen Bildungsmittelstandes. 
28.03.2016, 10:3502.11.2017, 15:43
Mehr «Literatur»

Unbestritten ist: Ein Wohnzimmer mit einem Bücherregal sieht einfach fabelhaft aus. Aber das allein ist es nicht, was die Menschen dazu bewegt, tonnenweise Bücher in ihrer Wohnung zu horten. Sie wollen als hochgradig gebildet erscheinen. Vor ihrem Besuch. Vor sich selbst.

Und so erwischt man sie, wie sie vor ihrer prallen Protz-Bibliothek stehen, liebevoll über die Rücken ihrer Lieblinge streicheln, und irgendwo zwischen der sehr kritischen Nietzsche-Gesamtausgabe und den Gedichten von Ingeborg Bachmann hockt sich ein süffisantes Lächeln in ihre Mundwinkel. Sie nicken sich zu und sagen Sachen wie «Haiaiai», so als könnten sie selbst kaum glauben, was sich da vor ihren Augen an geballter Weisheit zusammengefunden hat.

Die Bücher der alten Bibliothek in Cincinnati werden gestreichelt. 
Die Bücher der alten Bibliothek in Cincinnati werden gestreichelt. bild: messynessychic

Und dann werfen sie sich mit ihrer ganzen Seele in dieses wohltuende Gefühl der intellektuellen Vollkommenheit, das allein dem wahren Kulturmenschen vorbehalten ist.

Der heuchlerische Bildungsbürger stiehlt dieses Gefühl nur. Es handelt sich dabei um einen astreinen Selbstbetrug. Ein solch gearteter Blöffsack unterscheidet sich vom BMW-Protzer allein darin, dass seine Inszenierung nicht auf der Strasse, sondern in den eigenen vier Wänden stattfindet. 

Die Hälfte der Protz-Bibliothek meines besten Freundes. Seine Wohnung besteht eigentlich nur aus Büchern.
Die Hälfte der Protz-Bibliothek meines besten Freundes. Seine Wohnung besteht eigentlich nur aus Büchern.bild: watson

Die Rücken seiner Bücher sind tatsächlich das Einzige, was der Besitzer einer potemkinschen Bibliothek angefasst hat. Unzählige der weisen Inhalte bleiben auf Ewigkeiten unberührt. Und wie über einem vergessenen Grab das Unkraut wuchert, setzt sich der Staub auf die Werke. Und ihre Rücken beginnen unter der Last zu ächzen. Geputzt wird nämlich höchstens mit dem Finger, der kurz über den vorderen Teil der Regale streicht. Einfach damit der Verrat nicht augenscheinlich ist. Damit jeder glaubt, diese Bibliothek lebe, da würden ununterbrochen Bücher raus- und wieder reingeschoben.

«Ein klassisches Werk ist ein Buch, das die Menschen loben, aber nie lesen.»
Ernest Hemingway, seines Zeichens ein Klassiker

Mein bester Freund zum Beispiel behauptet, es gebe nur ein einziges Buch in seiner mächtigen Bibliothek, das er niemals gelesen habe. Dabei handelt es sich um die gigantische, von Kurt Flasch kommentierte und allseits hochgelobte Ausgabe von Dantes «Göttlicher Komödie».

Animiertes GIFGIF abspielen
Mein lieber Freund vergeht sich an der «Göttlichen Komödie».gif: watson

Eine kurze interne Umfrage bei watson hat folgendes Bild der Zustände in diversen Heimbibliotheken ergeben: Es verstauben die Biographien von Hillary Clinton, Christoph Blocher, Joschka Fischer und Robbie Williams, ferner Bourdieus «Die feinen Unterschiede», allerhand von Kafka, zwei Mal Spenglers «Der Untergang des Abendlandes», Laurence Sternes «Tristam Shandy», der Koran, Dostojewskis «Schuld und Sühne» und seine «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch», Döblins «Berlin Alexanderplatz», Thomas Manns «Zauberberg», Musils «Mann ohne Eigenschaften», Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» und Joyces «Ulysses». 

«Joyce ist der Schlimmste. Ich hab mich noch nicht mal getraut, den Klappentext des ‹Ulysses› zu lesen.» 
William Stern

Anstatt gelesen, wird geordnet

Für den echten Protzer zählt allein die Wirkung seiner Bücherregale. Was sie über den Besitzer aussagen. Dabei spielt die Ordnung der Lektüre eine wichtige Rolle. Es gibt die klassische und ernste Form der thematischen Gruppierung; nach Autoren, Epochen, Ländern oder anderen Kriterien. 

Die thematische Ordnung

Hier haben wir die Bibliothek meiner Eltern. (Die Bertelsmann-Lexika hab ich mittels extrem rührender Beschreibungen meiner Kindheitserinnerungen vor dem Abfalleimer bewahrt.)
Hier haben wir die Bibliothek meiner Eltern. (Die Bertelsmann-Lexika hab ich mittels extrem rührender Beschreibungen meiner Kindheitserinnerungen vor dem Abfalleimer bewahrt.)bild: watson

Gehört hab ich auch von Leuten, die ihre Bücher alphabetisch ordnen. Das macht irgendwie wenig Sinn. Eigentlich genauso wenig wie das Ordnen nach Farben der Buchcovers. Allerdings muss man sagen, dass die ästhetischen Vorzüge dabei nicht zu verachten sind: 

Die farbliche Ordnung

Die farbliche Pracht des Regals zweier geschätzter Freunde. Es sei einfach schön so, sagt sie. Ich vermute dahinter allerdings eine leichte, aber durchaus ästhetisch wirkungsvolle Zwangsstörung. 
Die farbliche Pracht des Regals zweier geschätzter Freunde. Es sei einfach schön so, sagt sie. Ich vermute dahinter allerdings eine leichte, aber durchaus ästhetisch wirkungsvolle Zwangsstörung. bild: watson

Und selbst im Chaos lässt sich eine gewisse Logik ausmachen. In diesem Beispiel sehen wir auf den ersten Blick einen ungeordneten Haufen Bücher. Er könnte frei sein von jeglicher Protzerei, läge da nicht das rote Buch so prominent an der Spitze dieses Bildungseisbergs. 

Die Abwesenheit von Ordnung

Ein Beispiel aus dem Heim einer watson-Redaktorin (mit einem Bein in einem wunderschönen Pischi). Sie blöfft gemeinhin nicht mit Büchern, sondern mit Konzerten. 
Ein Beispiel aus dem Heim einer watson-Redaktorin (mit einem Bein in einem wunderschönen Pischi). Sie blöfft gemeinhin nicht mit Büchern, sondern mit Konzerten. bild: watson

Anekdote aus dem Leben eines Blöffers

Selbst mein verehrter und sehr belesener Vater ist nicht frei von der prahlerischen Besitzgier aller Werke von Rang. Vor einigen Jahren hab ich ihm Bulgakows «Der Meister und Margarita» geschenkt. Ein Klassiker der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Aber das wusste er damals noch nicht. Erst als zwei Jahre später irgendeine bedeutende Literatur-Koryphäe in einer hochkulturellen Radiosendung das Buch in den höchsten Tönen lobte, kam er zu mir:

Mein Vater: «Du. Bulgakows ‹Meister und Margarita›. Das muss ich sofort haben.» 
Ich: «Das hab ich dir vor zwei Jahren geschenkt.»
Mein Vater: «Tatsächlich? Wow.» 
Gehörst du auch zu den Buch-Protzern?

Die unerbittliche Statistik meiner Bibliothek

Es ist nun also an der Zeit, die volle Wahrheit herauszufinden. Darf ich vorstellen, das ist meine bescheidene Bücherwand. Sie besteht aus Literaturklassikern und ein paar seichten Büchern, aus Krimis und vielen Geschichtsbüchern, wovon die Hälfte die alten Römer behandeln. Und ganz besonders die Kaiser des ersten Jahrhunderts. 

Meine heiss geliebten Bücherregale. (Ja, das da an der Wand sind aufgehängte Barbies, das ist aber kein Statement, sondern völlig sinnfreie Dekoration).
Meine heiss geliebten Bücherregale. (Ja, das da an der Wand sind aufgehängte Barbies, das ist aber kein Statement, sondern völlig sinnfreie Dekoration).bild: watson

Ich habe alle Bücher gezählt. Und dann festgestellt, wie viele ich davon nicht gelesen habe, hier ist das Ergebnis: 

Die Bücher über die alten Römer hab ich aber wirklich alle gelesen. 
Die Bücher über die alten Römer hab ich aber wirklich alle gelesen. bild: watson

Ja, ich bin schuldig. Es ist an der Zeit, dies vollumfänglich zuzugeben. Diese Zahlen lügen nicht. Sie sagen unumstösslich: Ja, du betreibst zu schauderhaft grossen Teilen einen Buchfriedhof. 

Und es käme mir nicht im Traum in den Sinn, meine Toten einzuäschern. Ich liebe sie alle. Ich liebe ihren Geruch. Ich liebe sogar das, wofür sie stehen. Und wer weiss, vielleicht werde ich sie ja doch noch lesen. 

Nein. Das werde ich nicht.

Gut also, hab ich mir grad vier neue Bücher bestellt. 

Passend dazu: Die 20 schönsten Bibliotheken der Welt

1 / 22
Die 20 schönsten Bibliotheken der Welt
Die George Peabody Library in der Johns Hopkins Universität, Baltimore, USA. bild: wikipedia
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Mehr Bücher und Menschen, die du ums Verrecken kennen musst:

Alle Storys anzeigen

Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!

  • watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
  • Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
  • Blick: 3 von 5 Sternchen
  • 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen

Du willst nur das Beste? Voilà:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
68 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Randen
28.03.2016 11:08registriert März 2014
Ich habe alles in der Cloud. Die ganze Bibliothek jederzeit auf allen Geräten verfügbar. So kann ich alle Bücher auch unterwegs NIE lesen.
824
Melden
Zum Kommentar
avatar
Karl Müller
28.03.2016 13:43registriert März 2015
Da ich sämtliche Klassiker der Weltliteratur als Kind in der Disney-Version im Lustigen Taschenbuch gelesen habe, kann ich den Bluff perfekt durchziehen. Und wenn der Abend spät genug ist, fällt auch gar nicht mehr auf, dass alle berühmten Charaktere irgendwie ein "Duck" im Namen haben.
753
Melden
Zum Kommentar
avatar
Jagr
28.03.2016 13:46registriert Februar 2016
Trotz aller lustiger Selbstkritik blufft die Autorin trotzdem. Und dies noch nicht mal sehr subtil.
561
Melden
Zum Kommentar
68