Am Sonntag entscheidet sich, ob in der Schweizer Energiepolitik eine neue Ära anbricht. Dann befindet das Stimmvolk über das revidierte Energiegesetz. Ziel: Neue Atomkraftwerke verbieten, erneuerbare Energien fördern und den Energieverbrauch reduzieren.
Im hitzigen Abstimmungskampf werfen sich die beiden Lager gegenseitig vor, Zahlen und Fakten zu ihren Gunsten auszulegen. Tatsache ist: Wie die Energiewende bei einem Volks-Ja ganz genau verlaufen wird, weiss heute niemand. Zu viele Faktoren beeinflussen einander und verunmöglichen so eine exakte Planung.
War das Handy vor 25 Jahren noch ein teures, unhandliches Nischenprodukt, ist es heute ein unverzichtbares Alltagstool. Beim Bund geht man davon aus, dass die technologischen Veränderungen im Energiebereich «ähnlich disruptiv» sein werden wie in der Mobiltelefonie.
Entwickeln sich die Produktionsanlagen und die Speicherlösungen im Energiebereich in einem ebenso rasanten Tempo, dürfte dies laut Marianne Zünd vom Bundesamt für Energie nicht nur zu einer Verringerung des Energieverbrauchs führen, sondern auch zu einer effizienteren Produktion und zu einem Preiszerfall. Nur: Welche Fortschritte in den nächsten Jahren genau zu erwarten sind, steht noch in den Sternen.
Fahren 2050 gleich viele, mehr oder weniger Leute Auto als heute? Und wie viele davon setzen auf ein Elektrofahrzeug? Unser Lifestyle ist für die Berechnung des künftigen Energieverbrauchs entscheidend.
Um beim Beispiel Verkehr zu bleiben: Aus Sicht des Bundes wäre die Annahme plausibel, dass künftig weniger Fahrzeuge unterwegs sind. «Denn es zeigt sich bereits heute, dass Junge nicht mal mehr den Führerschein machen, in den Städten immer weniger Bewohner ein eigenes Fahrzeug besitzen und bei Bedarf zum Beispiel auf Lösungen wie Car-Sharing zurückgreifen», so Zünd. Je nachdem, wie viele Elektroautos 2050 unterwegs sein werden, rechnet der Bund dafür mit einem Stromverbrauch zwischen fünf und zwölf Terawattstunden – ein ziemlich breites Spektrum.
Das Energiegesetz, über das wir am Sonntag abstimmen, ist nur der erste Schritt in Richtung Energiewende. Um das Fernziel zu erreichen, den Energieverbrauch pro Person um 43 Prozent zu senken, wollte der Bundesrat ab 2021 in einer zweiten Etappe weitere Schritte ergreifen. Vorgesehen war eine Verteuerung von Brenn- und Treibstoffen sowie Strom. Der Nationalrat hat der Idee solcher Lenkungsabgaben in der Frühlingssession allerdings eine klare Abfuhr erteilt.
Wie die Ziele nun stattdessen erreicht werden sollen, ist unklar. Eine Option sind laut Bundesamt für Energie schärfere Vorschriften für Geräte und Anlagen. Solche zeigten bereits heute Wirkung: «So braucht ein Kühlschrank heute nur noch einen Drittel der Energie seines zehnjährigen Vorgängermodells, LED-Lampen brauchen 80 Prozent weniger Energie als traditionelle Glühbirnen.» Auch Zielvereinbarungen mit energieintensiven Unternehmen hätten sich gut bewährt. Die Gegner der Energiestrategie sind indes überzeugt, dass weitere «Zwangsmassnahmen» nötig sein werden.
Sie sind der grösste Zankapfel in der Energiedebatte. Während der Bund von Kosten von 40 Franken pro Haushalt und Jahr spricht, geht die SVP von 3200 Franken aus. Dass die Werte so weit auseinanderklaffen, liegt nicht nur daran, dass die beiden Seiten mit ganz verschiedenen Messgrössen operieren (so rechnet der Bund nur mit der geplanten Erhöhung des Netzzuschlags, während die Gegner noch zahlreiche andere Faktoren in die Rechnung einfliessen lassen – darunter etwa die noch nicht beschlossenen Lenkungsabgaben aus Punkt 2).
Doch selbst wenn alle Akteure mit denselben Ellen messen würden, liesse sich kein exakter Betrag berechnen. So könnte die technologische Entwicklung laut Marianne Zünd zu «sehr grossen Kosteneinsparungen» führen. Sie verweist auf die Preise für Photovoltaik-Anlagen, die in den letzten zehn Jahren bereits um 80 Prozent gesunken seien. Eine Rolle spielt auch, zu welchem Zeitpunkt alte Geräte, Anlagen und Stromleitungen ersetzt werden: Je nachdem fallen die Ersatzinvestitionen höher oder tiefer aus – und der technische Fortschritt grösser oder kleiner. Höchstens grob geschätzt werden kann auch, wie sich die Kosten bei einem Nein zur Energiestrategie entwickeln würden.
Die weitere Entwicklung des Ölpreises wird nach Einschätzung des Bundes einen «sehr grossen Einfluss» auf die Energiezukunft haben. Der Preis werde weitgehend von den erdölproduzierenden Staaten diktiert, sagt Marianne Zünd. «Wenn der Preis wieder stark ansteigt, dann erhalten Massnahmen wie Gebäudesanierungen, Heizungsersatz oder Umstieg auf Elektromobilität starken Auftrieb.»
Auch die Entwicklung des Strompreises spielt eine Rolle: Wenn er steigt, erhöht sich der Anreiz, weniger Strom zu verbrauchen und selbst Strom zu produzieren. Wenn die Strompreise sinken, besteht hingegen die Gefahr, dass Anlagenbetreiber ihre Betriebskosten nicht mehr decken können und ihre Anlagen stilllegen.
In Deutschland sind entsprechende Folgen der Energiewende und der gesunkenen Strompreise bereits spürbar: In Bayern etwa musste vor zwei Jahren das Gaskraftwerk Irsching, eines der modernsten in Europa, stillgelegt werden, weil es nicht mehr profitabel betrieben werden konnte.