«Heute hatte ich schon zwei Kunden», erzählt Kübra stolz mit einer Zigarette in der Hand. Sie* sitzt in ihrer dunklen, rot beleuchteten Wohnung in einem Untergeschoss im Stadtviertel Beşiktaş in Istanbul. Hier sitzt sie auf dem Sofa am Laptop und trägt Strapse mit einem durchsichtigen Oberteil ohne BH darunter. Auf einem Tisch und am Boden liegen Kondome, hohe Pumps und Dildos. Ihr Zuhause ist gleichzeitig ihr Arbeitsplatz, wo sie auf Nachrichten oder Anrufe von Kunden wartet. Nebenbei läuft ohne Ton eine Dokumentation über wilde Tiere im Fernsehen. Ein Rudel Löwen auf der Jagd in der afrikanischen Wildnis. Seit mittlerweile einem Jahr arbeitet Kübra als Sexarbeiterin. Für Transpersonen ist das oft die einzige Möglichkeit in der Türkei Geld zu verdienen.
Noch vor einem Jahr kannten sie alle unter dem Namen Bariş. Bariş war ein schwuler Mann, der privat gerne Crossdresser war. Sich also weibliche Kleidung angezogen hat. «Ich habe es geliebt mich wie eine Frau anzuziehen und Sex wie eine Frau zu haben», erzählt Kübra. Vor einem Jahr entschied Bariş sich dann, dass er sein Leben anders führen möchte:
Bariş fing schliesslich an Hormone zu nehmen, liess sich Brustimplantate einsetzen, die Nase operieren, Extensions einsetzen und wollte nur noch Kübra genannt werden.
«Jetzt bin ich eine Tranny», sagt Kübra lachend. Ein Wort, das eigentlich meist als Beleidigung verwendet wird. Bariş hat sich nie als Frau gefühlt und auch Kübra definiert sich heute nicht als Frau. Im neuen Körper ist sie aber zufriedener als jemals zuvor. Kübra erzählt stolz:
Geschlechtlich festlegen möchte sie sich nicht. «Meine Freundinnen und Freunde waren schockiert, weil es nicht geplant war», erzählt sie. Mittlerweile finden sie Kübra jedoch besser als Bariş. Kontakt zu ihrer Mutter und ihrem Bruder hat sie mehrmals im Jahr, auch wenn sich ihre Mutter mit der Veränderung anfangs schwer tat.
Transmenschen haben es in der Türkei besonders schwer. Meist landen sie in der Sexarbeit, weil sie offen gesellschaftlich diskriminiert werden. Laut «Transgender Europa» wurden in den letzten acht Jahren 43 Trans- und Interpersonen in der Türkei getötet. Mehr als in keinem anderen europäischen Land. Erst im August 2016 wurde die Leiche der bekannten Trans-Aktivistin und Sexarbeiterin Hande Kader verbrannt in Istanbul gefunden. Vor ihrem Tod wurde sie vergewaltigt und gefoltert, vermutlich von einem ihrer Kunden. Ein gesellschaftlicher Wandel ist nicht in Sicht und die Situation für sexuelle Minderheiten verschlechtert sich.
Obwohl Kübra zwei Universitätsabschlüsse hat, bleibt ihr nur die Prostitution. Allerdings macht ihr die Arbeit auch Spass. «Es ist so viel leichter damit Geld zu verdienen», erzählt sie. Sie selbst arbeitet nur tagsüber von zuhause aus und steht nicht, wie viele andere Sexarbeiterinnen, nachts auf der Strasse nahe dem Taksimplatz. Zuhause und am Tag fühlt sie sich sicherer, obwohl sie das eigentlich nicht ist. Hier ist sie alleine mit den Kunden, die sie nicht kennt. «Ich telefoniere immer vorher mit ihnen, um abzuschätzen, ob sie kommen können oder nicht», so Kübra. Eine Taktik die bisher immer funktioniert hat.
Sexarbeit ist prinzipiell nicht illegal in der Türkei. Bordelle brauchen allerdings eine staatliche Konzession. Da die Regierung jedoch seit Jahren die meisten offiziellen Bordelle schliesst und keine Konzessionen vergibt, steigt die Strassenprostitution. Diese illegale Tätigkeit wird weitgehend geduldet, ist aber nicht ungefährlich. Mittlerweile gehört sie vor allem in Istanbul jedoch zum Strassenbild.
Jeden Tag kommen ungefähr drei bis vier Kunden zu Kübra. Da sie englisch spricht, hat sie einen Vorteil anderen Sexarbeiterinnen gegenüber, die oft nur türkisch sprechen. Ihre Kunden sind international, sie kommen aus dem arabischen Raum, aus Europa und Amerika, aber auch aus der Türkei. Sie dominiert ihre Kunden, von denen die meisten ihre Homosexualität nicht offen leben können: «Viele türkische und arabische Kunden wollen keinen Sex mit Männern, die dem gesellschaftlichen Bild eines Mannes entsprechen. Dass sie schwul sind, können sie nicht akzeptieren. Deshalb kommen sie zu Trannys wie mir.»
Dass die gesellschaftliche Situation in Istanbul schlechter wird, merkt auch Kübra. «Ich bin nicht überall in Istanbul sicher», erzählt sie während sie sich eine neue Zigarette anzündet
Unterwegs ist sie nur in bestimmten Bezirken. Da sie von der Situation in der Türkei und den aktuellen politischen Entwicklungen beunruhigt ist, spart sie einen grossen Teil ihres Geldes und plant auszuwandern:
Im Fernsehen läuft noch immer die Dokumentation. Die Löwen haben ihre Beute mittlerweile erlegt. Sie zerfleischen eine Antilope.
*Im Artikel wurde aufgrund des Namens das weibliche Pronomen verwendet, obwohl sich Kübra geschlechtlich nicht definiert. Die Wahl des Pronomens ist Kübra allerdings nicht wichtig.