Ich schlendere durch einen Park in Osaka. Er ist überraschend stark bevölkert für einen Donnerstagabend um 23 Uhr. Auf einmal fällt mir auf, dass fast alle Anwesenden auf ihr Smartphone starren. Und wenn das in Japan auffällt, will das etwas heissen, denn die Japaner blicken praktisch immer und überall auf ihre portablen Bildschirme – im Vergleich zu japanischen U-Bahnen sind SBB-Züge Plauder-Stammtische.
Doch hier im Park sind die Japaner noch viel stärker auf ihre Smartphones fixiert als sonst. Ein Blick über die Schulter einer jungen Dame verrät mir das Geheimnis: Hier wird Pokémon Go gespielt, das virtuelle Smartphone-Game, das gerade die Welt erobert.
Ich konnte mit Videogames nie etwas anfangen und habe keine Ahnung davon. Auch Pokémon Go kenne ich nur aus den Medien. Doch trotz meiner Unwissenheit ist mir nach drei Wochen Japan klar, dass es kein Zufall ist, dass das Pokémon-Fieber hier seinen Ursprung hat. Die Japaner sind so verspielt, da muss die eine oder andere Errungenschaft auch im Rest der Welt Anhänger finden.
Es beginnt schon mit dem Gang zur Toilette. Bei uns eine eintönige Angelegenheit. Hier in Japan dagegen erwarten den Besucher unzählige Knöpfe, welche die Sache spannender machen. Mögen Sie den Thron geheizt? In welchem Winkel wollen Sie Ihren Allerwertesten abgespritzt haben? Oder gehören Sie gar zu jenen, welche die natürlichen, aber wenig appetitlichen Klo-Geräusche mit Musik übertönt haben möchten? Auf den japanischen Hightech-Toiletten alles kein Problem.
Knöpfe drücken ist auch beim Purikura angesagt – und lächeln. Da der Zutritt zu den wunderlichen Fotoautomaten aber aus einem unerfindlichen Grund Frauen und Pärchen vorbehalten ist, vergeht mir das Lachen erstmal. Schüchtern frage ich zwei Girls, die gerade gehen wollen, ob sie mit mir einen zusätzlichen Purikura-Durchgang einlegen. Keine Minute später stehen Miyuki, Maya und ich im Barbie-und-Ken-Themenkasten. Vor jedem Foto weisen mich die Girls – die mit 20 und 29 viel älter sind, als ich gedacht hätte – an, wie ich zu posieren habe. Ich gebe mein Bestes.
Nach den Fotos geht die Arbeit aber erst richtig los. An einem anderen Automaten müssen unsere Gesichter, die automatisch mit einem Barbie- beziehungsweise Ken-Filter «verschönert» wurden, noch mit Herzchen-Brillen und Mickey-Mouse-Ohren geschmückt werden. Noch kurz Name, Datum und Ort vermerken, et voilà, fertig sind die selbstklebenden Fotos fürs nächste Bewerbungsdossier.
Auch eine Nacht im Hotel ist in Japan eine ganz spezielle Erfahrung – zumindest, wenn man eines der beliebten, da günstigen, Kapsel-Hotels aufsucht. Dort sitzen Geschäftsmänner in luftigen Pyjamas auf bequemen Ledersesseln im Gemeinschaftsraum, nehmen ab und zu ein heisses Bad, qualmen eine Zigarette nach der anderen und kriechen dann zum Schlafen in ihre Kapseln – so eine Art Setzkasten-Betten, etwas mehr als ein Meter hoch und breit, rund zwei Meter lang.
Wer unter Platzangst leidet, dürfte sich in Kapsel-Hotels in einem Horrorfilm wähnen. Ich dagegen fühle mich in den futuristischen Plastikkabinen wie in einem Science-Fiction-Streifen.
Wie das Kapselhotel ist auch das Maidcafé, in das ich mich wage, eine reine Männerangelegenheit – zumindest, was die Gäste betrifft. Ich weiss gar nicht, ob Frauen zugelassen sind. Besonders gross wäre der Andrang aber wohl ohnehin nicht, denn welche Frau bezahlt schon 500 Yen (4,70 Franken) pro Stunde, um sich von jungen Frauen – oder sollte ich sagen Mädchen – in Schuluniformen bedienen zu lassen? Japanische Männer tun es en masse.
Angeblich soll es ihnen dabei nicht um die kurzen Röcke gehen, sondern nur um die besondere Aufmerksamkeit, die ihnen die weiblichen Bediensteten zukommen lassen. Da ich nicht Japanisch spreche, beschränkt sich diese Aufmerksamkeit bei mir allerdings auf ein im Chor gesungenes «Herzlich willkommen» und «Auf Wiedersehen». Ich vermute zumindest, dass es das ist, was die Piepsstimmen von sich geben.
In einigen dieser Cafés sollen die Mädchen auch als Figuren aus Manga-Heften, japanischen Comics, verkleidet sein. Und zu fortgeschrittener Stunde gibt es in Ausgehmeilen zahlreiche Bars, in denen Krankenschwestern nach dem Wohl der Gäste schauen. Wie weit die Kundenpflege dieser Damen geht, habe ich nicht herausgefunden.
Man kann sich auch streiten, ob man die Vorliebe einiger japanischer Männer für solche sexuellen Reize noch «verspielt» nennen will. Aber da kommen wir bereits wieder zu einem ernsteren Thema. Dabei sollte es in dieser Kolumne doch nur darum gehen, dass nun alle Welt Pokémons jagt, weil die Japaner etwas anders ticken.