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Ich bekomme regelmässig Videos von meinem neun Monate alten Neffen Elias. Meist dienstags, wenn meine Schwester arbeitet und meine Eltern ihn hüten. Elias beim Baden, Elias mit einer Plüschtier-Eule, Elias mit Bauklötzen, Elias das erste Mal im Schnee.
Es ist schön, den Kleinen zumindest auf Bildern aufwachsen zu sehen. Wegen der Videos fährt es mir in Kambodscha aber auch umso mehr ein, wenn ich den vielen Kindern begegne, die nicht eine derart unbeschwerte Kindheit haben wie er in der Schweiz.
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) schätzt, dass es in Kambodscha – einem Land mit rund 15,4 Millionen Einwohnern – 1,5 Millionen Kinder gibt, die unter prekären Umständen leben. Viele davon haben keine Eltern mehr. Das heisst, sie sind nicht oder kaum geschützt vor Gewalt, Missbrauch, Ausbeutung oder Verwahrlosung.
Dieses Problem ist auch beim weltberühmten Tempelkomplex Angkor offensichtlich. «Sir, Sir, you want postcard?», fragt mich ein kleines Mädchen. Nein, danke, sage ich und laufe weiter. Als sie hartnäckig an meiner Seite bleibt, sehe ich mir doch ein paar Sujets an. Beim Betrachten der Karten frage ich die Kleine, ob sie zur Schule gehe. «No, no school», antwortet sie kopfschüttelnd. Die paar Brocken Englisch hat sie im täglichen Kontakt mit den Touristen gelernt.
Mir kommt der Slogan eines Kinderhilfswerks in den Sinn, den ich am Abend zuvor in einem Restaurant gelesen habe: «Denk nach, bevor du bettelnden Kindern Geld gibst!» Wer das tue, ermuntere diese – und vor allem deren Eltern – weiterhin dem schnellen Geld nachzujagen, anstatt eine Ausbildung in Angriff zu nehmen.
Die Kleine bettelt zwar nicht, sondern verkauft Postkarten. Die Konsequenz ist aber die gleiche: Sie geht nicht zur Schule. Ich blicke ihr deshalb in ihre dunklen, traurigen Augen und sage: «Es tut mir leid, aber ich kaufe nichts.» Sie läuft mir noch ein paar Minuten hinterher, gibt dann frustriert auf und sagt wütend: «Wieso haben Sie die Karten dann überhaupt angeschaut? Sie sind verrückt!»
Einen Tag später in Siem Reap, der Kleinstadt, in der die tausenden Tempelbesucher übernachten, beschimpft mich erneut ein Kind. In der sogenannten Pub Street, in der es sich die Touristen aus aller Welt gut gehen lassen, spricht mich ein Bub an: «Sir, bitte kaufen Sie mir eine Packung Milchpulver für meine kleine Schwester. Wir haben kein Geld.»
Ich schaue in sein Gesicht und bin schockiert. Seiner Körpergrösse nach zu urteilen, kann er kaum älter als zehn Jahre sein, doch er hat die Haut eines Erwachsenen, der in seinem Leben zu viel getrunken und geraucht hat. Ich bin mir sicher, dass der Junge drogenabhängig ist. In seinen Augen fehlt das Leuchten, das Kinderaugen normalerweise so einzigartig macht.
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Ich will ihm kein Milchpulver kaufen. Denn ich weiss, dass er im Laden einfach auf das teuerste Produkt zeigen wird – nur um wenige Minuten später zurückzukehren, um sich vom Verkäufer gegen eine Provision den Kaufpreis zurückerstatten zu lassen. Es würde ihn also ebenfalls dazu ermuntern, weiterhin zu betteln – und nicht zur Schule zu gehen.
Ich sage deshalb auch ihm: «Es tut mir leid, aber ich kann dir nichts kaufen.» Daraufhin wird er so aggressiv, wie ich es von Kindern noch nie erlebt habe. Er brüllt mir nach: «Du bist ein schlechter Mann. Fuck you, man! Fuck you!» Dann läuft er weg.
Mit einem grossen Knoten im Magen laufe ich in mein Hostel zurück. Aus den unzähligen Bars dröhnen laute Musik sowie das Stimmengewirr und Gejohle der Touristen. Im Bett rasen in meinem Kopf die Gedanken: War es falsch, dem Jungen nichts zu kaufen? Wäre es nicht besser gewesen, als gar nichts zu tun? Was nützt es ihm überhaupt, wenn er zur Schule geht? Um danach keinen Job zu finden? Braucht er wirklich eine Ausbildung, um danach wie alle anderen Tuk-Tuk-Fahrer zu werden?
Und vor allem: Was hätte ich sonst tun sollen?