Früher war die Kirche noch im Dorf. Die Gläubigen gingen am Sonntag in den Gottesdienst, und der Pfarrer verkündete das Wort Gottes. Angezweifelt wurden die Dogmen in der Regel nicht, schliesslich stützte er sich auf die Bibel, die als Wort Gottes aufgefasst wurde. Der Geistliche stellte meist einen Bibelvers an den Anfang der Predigt.
Man glaubte an Gott, weil (fast) alle ihm glaubten. Und weil die Kirche eine mächtige Institution war. Der Glaube gehörte irgendwie zur sozialen DNA. Grundsätzliche Zweifel an Gott und dem christlichen Glauben galten rasch als Blasphemie oder Ketzerei.
Mit der 1968er-Revolte holten die Intellektuellen und Freidenker den Pfarrer von der Kanzel, Kritik am Glaube und der Kirche waren nicht mehr tabu. Ausserdem nagten die Individualisierung und Säkularisierung am Fundament der Kirchen, die sich der Diskussion stellen mussten. Die Frage, ob Gott tatsächlich existiert oder nur ein Gedankenkonstrukt ist, um die Angst vor dem Tod zu mildern und die Hoffnung auf ein Leben danach in paradiesischen Zuständen zu führen, war kein Sakrileg mehr.
Die meisten Skeptiker liessen sich nicht auf eine vertiefte theologische Diskussion ein. Vielen fehlte der theologische Hintergrund, und Dispute mit Frommen waren unergiebig, weil sie eben gläubig waren, was eine intellektuelle Auseinandersetzung verunmöglichte.
Die Agnostiker und Atheisten versuchten die Gläubigen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Kernpunkt war der Glaube, ihr Gott sei als Schöpfer allmächtig, barmherzig und gütig. Schliesslich wurde er als Vater im Himmel dargestellt, der als guter Hirte für seine Schäfchen auf der Erde sorgt.
Damit gruben die Gläubigen in den Augen der Skeptiker ihre eigene Falle. Wo ist dein gütiger Gott, wenn Kleinkinder an Krebs sterben, im Krieg Spitäler bombardiert werden und Soldaten Frauen und Kinder vergewaltigen und massakrieren, fragten sie.
Das schlagendste Argument lieferten den Kritikern die Nazis im Dritten Reich mit dem Holocaust: Wo war euer Gott, als Millionen von Juden, die zum auserwählten Volk Gottes gehörten, umgebracht wurden, wollten die Atheisten wissen. Plausible Antworten konnten die Theologen und Geistlichen nicht liefern, obwohl sie unzählige Schriften und Bücher zu diesem Thema verfassten. Dieses Phänomen wird unter dem Fachbegriff «Theodizee» zusammengefasst.
Fehlt ihm das Mitgefühl für seine Geschöpfe? Oder ist er unfähig, in den Lauf der Welt einzugreifen?
Viele Gläubige erklären das Paradox mit dem Argument, dass Gott uns Menschen einen freien Willen gegeben habe. Also die Freiheit, nicht an Gott zu glauben und Böses zu tun. Das ist nicht plausibel und ein Ablenkungsmanöver. Das würde bedeuten, dass Gläubige den Skeptikern und Atheisten moralisch und ethisch überlegen wären. Es ist aber zu bezweifeln, dass Gläubige «bessere Menschen» sind.
Doch nicht nur Christen glauben, dass Gott in der Welt präsent ist und ins Schicksal der Menschen eingreifen kann. Auch Muslime sind überzeugt, dass Allah den Rechtgläubigen beisteht. Schon im Diesseits.
Doch auch sie erleben immer wieder, dass Allah durch Abwesenheit glänzt, wenn Gläubige in Not sind. Auf der Pilgerreise nach Mekka, der heiligsten Stätte des Islam, starben vor wenigen Tagen rund 1300 Muslime den Hitzetod bei über 50 Grad. Sie pilgerten zu Ehren Allahs zum schwarzen Schrein, doch er kam ihnen beim Todeskampf nicht zu Hilfe. Immerhin gehört die Hadsch zu den fünf heiligen Pflichten der Muslime.
Für Skeptiker ist klar: Wenn Allah nicht einmal bei diesem heiligen Ritual den todgeweihten Pilgern zu Hilfe eilt, dann tut er es wohl nie. Das ist für sie ein klarer Hinweis, dass seine Existenz ein Mythos ist.
Der französische Schriftsteller Stendhal (1783–1842) hat gesagt: «Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt!» Atheisten bezeichnen die Theodizee-Frage gern als den «letzten Sargnagel» für den Gottesglauben.
Gottes Abwesenheit hat schon Jesus am Kreuz erlebt, rief er doch: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»