War es eine Art Geburtstagsgeschenk für Nick Hayek? Just am 23. Oktober 1998, dem 44. Geburtstag des damaligen Direktionspräsidenten, lancierte der Schweizer Uhrenhersteller Swatch eine neue Zeitrechnung: die Swatch-Internetzeit. Heute, 20 Jahre danach, ist Nick Hayek CEO der Swatch Group – und die Swatch-Internetzeit ist längst Geschichte.
Dabei klingt die Idee doch verlockend. Warum die Zeiteinteilung nicht ins Dezimalsystem überführen wie zahlreiche andere physikalische Grössen wie Länge oder Masse? Swatch wollte – beraten von Nicholas Negroponte, dem Gründer und Direktor des Media Laboratory des Massachusetts Institute of Technology – rabiat mit dem aus babylonischen Zeiten stammenden System aufräumen, das den Tag in 24 Stunden zu 60 Minuten zu je 60 Sekunden unterteilt. Stattdessen sollte der Tag in 1000 Einheiten, sogenannte Beats, gegliedert werden.
Ein Swatch-Beat dauert somit knapp anderthalb Minuten, nämlich 86,4 Sekunden oder 1 Minute und 26,4 Sekunden. Die Schreibweise der Internetzeit orientiert sich an den 1998 noch sehr hippen E-Mails und verwendet das At-Zeichen (@, auch «Affenschwanz» genannt) plus den dreistelligen Wert. @248 beispielsweise steht für 248 Beats oder 5 Stunden und 57 Minuten nach Beginn eines Tages um @000.
Und der Tag der Swatch-Internetzeit beginnt überall zur gleichen Zeit – es gibt keine Zeitzonen, keine Sommerzeit. @000 ist überall auf dem Erdball um die gleiche Zeit, und das ist jene von Biel, wo sich der Hauptsitz der Swatch Group befindet. Hier verläuft der Nullmeridian der Internetzeit, markiert an der Fassade des Swatch-Hauptquartiers. Die sogenannte Biel Mean Time (BMT) entspricht damit der mitteleuropäischen Winterzeit (Central European Time, CET).
Da eine beliebige Zeit wie @367 also überall gleichzeitig gilt – mithin @367 in Biel auch @367 in Tokio, Moskau, New York oder Los Angeles bedeutet –, gibt es in der Swatch-Internetzeit keine Missverständnisse mehr bei Terminabsprachen über grosse geografische Distanzen hinweg. Die BMT-Zeitangabe ist immer eindeutig. Für international agierende Unternehmen wäre dies ein Vorteil.
Bei der traditionellen Zeitangabe können Zeitzonen nämlich durchaus verwirren, zumal dabei noch die Datumsgrenze eine Rolle spielt. Wenn es zum Beispiel in Moskau am 23. Januar 6 Uhr morgens ist, ist es in San Francisco noch 19 Uhr am 22. Januar. Noch schwieriger wird die Umrechnung bei Staaten mit eigenen Zeitzonen wie Iran oder Nepal, die eine halbe oder gar eine Viertelstunde von einer der 24 Zonenzeiten abweichen.
Leider gibt es selten Vorteile ohne Nachteile, und dies gilt auch für die Swatch-Internetzeit. Sie setzt den Beginn des Tages für alle Orte rund um die Welt auf den gleichen Zeitpunkt, egal auf welcher geografischen Länge sich diese Orte befinden. Dies bedeutet, dass ein neuer Tag in Biel um Mitternacht beginnt wie in der traditionellen Zeitrechnung, in Chicago aber um 17 Uhr und in Sydney um 10 Uhr. Die Festlegung auf die mitteleuropäische Zeit musste in Asien und Amerika als europazentrisch empfunden werden und dürfte die neue Zeiteinteilung viel Unterstützung gekostet haben.
Was die Internetzeit aus Biel aber vermutlich ebenfalls am Durchbruch hinderte, war der Umstand, dass es bei ihrer Lancierung im Grunde längst eine weltweit verbindliche Standardzeit gab: die 1972 eingeführte koordinierte Weltzeit UTC. Sie wird überall dort eingesetzt, wo man eine weltweit einheitliche Zeitskala benötigt, so in der Luft- und Seefahrt, in der Meteorologie, auf der Internationalen Raumstation ISS oder in E-Mails.
Nicht eben förderlich war obendrein die Tatsache, dass die Swatch-Internetzeit nicht den einzigen Versuch darstellte, eine neue Zeiteinteilung im Cyberspace zu etablieren. Kurz nach ihrer Lancierung wurden in England die Greenwich Net Time und die Greenwich Electronic Time (GeT) propagiert – beide im Bestreben, die Bedeutung des Nullmeridians, der durch Greenwich läuft, auch im Internet zu zementieren.
So erlitt die neue Zeiteinteilung dasselbe Schicksal wie andere Anläufe vor ihr, die Zeit dezimal zu gliedern. Neu war ja eigentlich nur der Begriff «Beat»; die Einteilung eines Tages in 1000 Einheiten hatte lange Zeit zuvor bereits die Französische Revolutionsregierung versucht. Per Dekret vom 24. November 1793 hatten die Franzosen die Dezimalzeit eingeführt, in der ein Tag in zehn Dezimalstunden unterteilt wurde, von denen jede 100 Dezimalminuten hatte. Die Dezimalminuten wiederum waren in je 100 Dezimalsekunden gegliedert.
Die Dezimalzeit war Teil des im September 1792 eingeführten Revolutionskalenders, der die Länge der Monate einheitlich auf 30 Tage zu je drei Dekaden festsetzte und neue Bezeichnungen für sie einführte. Die Diskrepanz zum Sonnenjahr wurde mit fünf bzw. sechs Ergänzungstagen ausgeglichen. Im Gegensatz zum Revolutionskalender, der immerhin bis Ende 1805 galt, blieb die Dezimalzeit toter Buchstabe und wurde 1795 bereits wieder abgeschafft.
Mit dem Flop der Swatch-Internetzeit wurden auch entsprechende Funktionen von Geräten mehr oder weniger obsolet, die in der Lage waren, diese Zeit anzuzeigen. Als erstes Mobiltelefon konnte dies das T20 von Ericsson, wobei es allerdings möglich war, die Anzeige auf das gängige 24-Stunden-Format umzuschalten.
Die Swatch Group unternahm nicht geringe Anstrengungen, um ihre Internetzeit zu propagieren. Sie liess sogar einen Satelliten – eine exakte Nachbildung des sowjetischen Sputniks, des ersten künstlichen Satelliten überhaupt – ins All befördern. Der «Beatnik», wie er genannt wurde, sollte von der russischen Raumstation «Mir» aus lanciert werden und für extraterrestrische Intelligenzen bestimmte Botschaften wie «Der Spiralwirbel erwartet die Verdampfung des letzten Beat, und die Zeit steht still» in den Weltraum tragen.
Diese Marketingmassnahme erntete freilich Protest: Funkamateure klagten, Swatch missbrauche für sie reservierte Frequenzen, um kommerzielle Botschaften und Spam-Mails zu verbreiten – was durch internationale Verträge verboten sei. Swatch zog daher die Reissleine und gab bekannt, man habe die Batterien von «Beatnik» den Kosmonauten der «Mir» überlassen.