Am Mittwochnachmittag fielen in der zentralslowakischen Stadt Handlová mehrere Schüsse. Zwei davon trafen den slowakischen Regierungschef Robert Fico, der seither in Lebensgefahr schwebt. Fico, der seit 2006 bereits zum vierten Mal als Regierungschef amtet, ist seit Langem der wohl einflussreichste slowakische Politiker. Seine Partei, die «Smer – slovenská sociálna demokracia» (Smer-SSD), trägt Züge einer Einmann-Partei und Fico geniesst als Parteichef umfangreiche Befugnisse.
Wo und wofür diese Partei eigentlich steht, ist – zumal für westeuropäische Beobachter – schwierig einzuordnen. Smer-SSD vertritt Positionen, die auf verschiedenen Seiten des überkommenen Rechts-Links-Koordinatensystems angesiedelt sind. Beobachter etikettieren die Partei denn auch mit unterschiedlichen Begriffen, etwa linksnationalistisch, linkspopulistisch, nationalpopulistisch oder sozialpopulistisch. Woher kommt die Partei, welche Positionen vertritt sie und warum ist sie damit erfolgreich?
Die Slowakei entstand in ihrer heutigen Form erst 1993, als sie sich neben Tschechien als Nachfolgestaat der Tschechoslowakei bildete. In der jungen Slowakei gab es von Anfang an zwei Gruppierungen der sozialdemokratischen Linken: Die eine, die SDSS (Sozialdemokratische Partei der Slowakei), bestand hauptsächlich aus Veteranen des Prager Frühlings, der 1968 von den Sowjets niedergeschlagen worden war. Diese grenzten sich von den vormaligen Kommunisten ab und sah sich als die «wahren» Sozialdemokraten.
Die andere Gruppierung, die SDL' (Partei der demokratischen Linken), ging aus der entmachteten Kommunistischen Partei hervor. Diese Postkommunisten liessen jedoch ihre Wurzeln hinter sich und wandelten sich zu einer demokratischen, proeuropäischen Partei. Beide linken Parteien konnten jedoch nur wenige Wähler an sich binden. Dies änderte sich mit Robert Fico, dessen politische Karriere 1986 in der tschechoslowakischen KP begonnen hatte und der mittlerweile SDL'-Abgeordneter war.
1999 verliess der damals schon populäre Fico die SDL' und gründete die Smer (zu Deutsch «Richtung»), die bis 2004 nahezu sämtliche Parteien des linken Spektrums mit Ausnahme der Kommunisten aufsog. Die Partei erlebte bis heute mehrere Namenswechsel; bis 2004 nannte sie sich Smer (tretia cesta), deutsch «Richtung (Dritter Weg)», dann bis 2021 Smer – sociálna demokracia. Seither tritt sie unter ihrem aktuellen Namen auf.
Den diversen Namenswechseln entsprechen programmatische Änderungen: Zu Beginn verschrieb sich die Partei einem sogenannten «Dritten Weg» – also einer Modernisierung der Sozialdemokratie in Richtung einer «pragmatischen, ideologiefreien Politik», wie sie vornehmlich von Tony Blair oder Gerhard Schröder propagiert wurde.
Später kehrte die Partei schrittweise zu eher traditionellen sozialdemokratischen Positionen zurück. Einen Wachstumsschub bescherte ihr die kritische Haltung gegenüber den unpopulären Wirtschaftsreformen, die die Slowakei durchführen musste, um in die EU aufgenommen zu werden. 2006 gewann die Smer-SD die Wahlen und bildete unter Fico eine Regierungskoalition mit kleineren rechtsgerichteten Parteien. Trotz seiner Kritik an den liberalen Wirtschaftsreformen hielt Fico das Land aber auf Kurs, den Euro einzuführen.
2020 wurde die Partei in der Folge des Skandals um die Ermordung des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová zwei Jahre zuvor in die Opposition verbannt. Fico positionierte die Smer-SD neu und verschaffte ihr mit der Agitation gegen die Corona-Massnahmen der Regierung einen neuen Popularitätsschub. Zusätzlichen Aufwind erhielt die nunmehr Smer-SSD genannte Partei durch die hohe Inflation und ihre zunehmend prorussische Haltung, die besonders im Osten des Landes immer populärer wird – obwohl die Slowakei anfänglich zu den engagierten Unterstützern ihres Nachbarlands Ukraine zählte.
Mit ihrer Rückkehr an die Macht 2023 hat die Partei unter Fico daher die militärische Unterstützung der Ukraine beendet, trägt aber die EU-Sanktionen gegen Russland weiterhin mit. Trotz ihrer zuweilen EU-kritischen Rhetorik befürwortet sie nach wie vor die Mitgliedschaft in der EU und der Nato, betont indes auch die Notwendigkeit von guten Beziehungen mit Russland und China.
Wirtschaftspolitisch vertritt die Smer-SSD einen neo-keynesianischen Ansatz der Wachstumsförderung durch Investitionen. Sie tritt für einen starken Sozialstaat ein und ist gegen neoliberale Reformen. Mit diesen eher linken Positionen kontrastiert ihre dezidierte Ablehnung der Zuwanderung, insbesondere aus islamischen Ländern. Zudem gibt sich die Partei gesellschaftspolitisch konservativ: Sie verhält sich etwa in der Frage der Rechte der LGBTQ-Community, der Gleichstellung der Frauen, der Legalisierung von Cannabis oder den Massnahmen gegen die Klimaerwärmung neutral bis ablehnend.
Von 2006 bis 2020 war die Smer-SSD bei allen Parlaments- und Europawahlen die stimmenstärkste slowakische Partei; nur der Urnengang von 2020 endete für die Partei mit einer Niederlage. Nur wenige Parteien, die der Sozialistischen Internationalen angehören, konnten wohl einen solch anhaltenden politischen Erfolg verzeichnen.
Ihre Stärke bezieht die Partei nicht zuletzt aus ihrer Organisationsstruktur, die dem Parteichef bedeutende Kompetenzen einräumt. Fico ist es bisher – wohl dank seines politischen Charismas – gelungen, die Einheit der Partei trotz ihrer unterschiedlichen, zuweilen gar antagonistischen Strömungen zu bewahren. Der Preis für diese Effizienz ist neben der Dominanz des Parteichefs eine unzureichende Diskussionskultur innerhalb der Partei.
Etwa die Hälfte der Wählerschaft der Smer-SSD ist linksorientiert, die andere Hälfte ist nationalkonservativ. Der Erfolg der Partei besteht hauptsächlich darin, diese beiden unterschiedlichen Wählermilieus an sich zu binden. Dies gelingt ihr durch eine Kombination von klassischen sozialdemokratischen Positionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit eher nationalkonservativen Positionen in Gesellschafts- und Kulturpolitik.
In Wirtschaftsfragen positionierte sich die Partei stets mit einer linken Rhetorik, obwohl sie bei ihren Massnahmen eher gemässigt blieb. Im Gegensatz zu anderen sozialdemokratischen Regierungen, die neoliberale Wirtschaftsreformen durchführten, konnte die Smer-SSD diesem Druck jedoch widerstehen. Sie blieb also, anders als etwa die Schrödersche SPD oder die Blairsche Labour-Party fest in den traditionellen sozialdemokratischen Werten der alten Linken verankert.
Die Betonung des Patriotismus ist in einem Land wie der Slowakei, die erst 1993 wieder als Nationalstaat entstand und ihre nationale Identität auch in Abgrenzung zum grossen tschechischen Bruder finden musste, bedeutend populärer als in den westeuropäischen Demokratien. Während nationalistische Positionen für westliche Sozialdemokraten nahezu undenkbar sind, befindet sich die Smer-SSD in dieser Hinsicht näher an der Fidesz in Ungarn oder der PiS in Polen. Diese rechtsgerichteten Parteien bewirtschaften den Nationalismus allerdings deutlich extremer.
Der Smer-SSD unter Fico ist bisher das Kunststück gelungen, eine gemässigt linke Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Patriotismus und nationaler Rhetorik zu verbinden und so eine bedeutende Wählerbasis an sich zu binden. Ob diese Kombination ohne eine charismatische Integrationsfigur wie Fico möglich gewesen wäre, ist zweifelhaft. Ohne eine solche Figur droht der Partei der Zerfall in eine linke sozialdemokratische Partei westlicher Art, die ihre Basis vornehmlich in den Städten hat, und in eine nationalkonservative Partei, deren Basis ländlich ist.
Die Slowaken sollten sich sehr gut überlegen, in welcher Welt sie leben möchten.