
Um Angela Merkel wird es einsam: Die Kanzlerin während der Gespräche vom Sonntag. Bild: EPA/EPA
Analyse
Nach dem Scheitern
der Jamaika-Gespräche ist ausgerechnet das mustergültig stabile Deutschland zu Europas Sorgenkind geworden. Die
Zukunft von Angela Merkel ist offener denn je.
20.11.2017, 15:2521.11.2017, 05:22
Viele konnten es am
Montagmorgen kaum glauben: Die Sondierungen von CDU, CSU, FDP und
Grünen über die Bildung einer Jamaika-Regierung sind
gescheitert. Dabei hatten die eigentlichen Koalitionsverhandlungen
noch gar nicht begonnen. Es war von Anfang an klar, dass die
Gespräche zwischen den ungleichen Parteien schwierig verlaufen
würden. Am Ende aber würde das Verantwortungsbewusstsein die
ideologischen Differenzen überwinden, dachte man.
Es kam anders, die
FDP liess die Gespräche im Streit um die Flüchtlingspolitik
platzen. Nun weiss niemand, wie es weitergehen soll. Das
schwarz-gelb-grüne Jamaika-Bündnis schien die einzige tragfähige
Koalition zu sein, nachdem sich die SPD mit Getöse in die
Opposition verabschiedet hatte. Die Bildung einer stabilen Regierung
scheint nun illusorisch.

FDP-Chef Christian Lindner erklärt die Jamaika-Sondierungen für gescheitert.Bild: EPA/EPA
Die Wut der anderen
Parteien richtet sich gegen die FDP. Sie habe die Sondierungen mit
immer neuen Forderungen hintertrieben. FDP-Chef Christian
Lindner allerdings konnte einer Regierungsbeteiligung zum heutigen
Zeitpunkt nie viel abgewinnen. Den Liberalen steckt ihr Debakel mit
der schwarz-gelben Regierung von 2009 bis 2013 in den Knochen, der sie als 15-Prozent-Partei beigetreten waren und die mit ihrem
Rauswurf aus dem Bundestag endete.
Erinnerungen an Weimar
«Die FDP konnte in
dieser Koalition nichts gewinnen», schreibt die «Frankfurter
Allgemeine Zeitung». Allerdings hat auch Deutschland mit dem
Jamaika-Flop nichts gewonnen. Am Ende des «Superwahljahrs» 2017, in dem viele mit Bangen in die
Niederlande, nach Frankreich oder Österreich geblickt haben, ist
ausgerechnet Deutschland zu Europas Sorgenkind geworden.
Dabei war die
Bundesrepublik seit ihrer Gründung 1949 auf stabile Verhältnisse
ausgerichtet. Das Chaos der notorisch unruhigen Weimarer Republik mit
ihren ständig wechselnden Regierungen, das mit der Machtergreifung
der Nationalsozialisten 1933 geendet hatte, sollte sich nicht
wiederholen. Dafür sollte unter anderem die Fünf-Prozent-Hürde im
Bundestag sorgen.
Während Jahrzehnten
ging dieses Kalkül auf, Deutschland konnte stets auf Regierungen mit
einer stabilen Mehrheit zählen. Die Zersplitterung der
Parteienlandschaft aber hat auch die Fünf-Prozent-Hürde nicht verhindert. Heute sitzt eine Rekordzahl von
sieben Parteien im Bundestag, von denen die AfD gar nicht und die
Linke nur bedingt als regierungstauglich gilt.
Bundestagswahl 2017
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Bundestagswahl 2017
quelle: ap/ap / markus schreiber
In gewisser Weise
ist Deutschland zu einem normalen europäischen Land geworden. In den
Niederlanden dauerte es Monate, bis eine neue Regierung zustande kam.
In Österreich scheint es fraglich, ob eine schwarz-blaue Regierung
wie erhofft bis Weihnachten gebildet werden kann. Für Europa aber ist die neue Normalität im wirtschaftlich stärksten Land
keine gute Nachricht.
Schwarzer Peter für Merkel
Gefordert ist in
erster Linie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihre Rolle bei den
Jamaika-Gesprächen wird zwiespältig beurteilt. Aus den Reihen der
FDP attestiert man ihr eine «chaotische Verhandlungsstrategie» und versucht damit offensichtlich, ihr den schwarzen Peter
zuzuschieben. Andere sagen, die Kanzlerin habe sich
angesichts der vertrackten Lage gut geschlagen.
Für Merkels Image
als führungsstarke Politikerin und «mächtigste Frau der Welt» allerdings ist
das Scheitern eine Katastrophe. Bereits nach den deutlichen Verlusten
ihrer CDU bei der Bundestagswahl und der Niederlage bei der
Landtagswahl in Niedersachsen hatte die Kritik an der Kanzlerin auch
aus den eigenen Reihen zugenommen. Es kam sogar zu Rücktrittsforderungen.
Die deutschen Medien
sind sich uneinig, wie es nach dem Jamaika-Flop weitergehen soll. Die «Süddeutsche Zeitung» ist für eine Neuauflage der Grossen
Koalition. «Die SPD muss jetzt mehr Verantwortung zeigen als die
verantwortungslose FDP», fordert das Blatt aus München. Doch die
Sozialdemokraten wollen davon nichts wissen, wie sie am Montag
klarstellten.
Die FAZ tendiert zu
einer Minderheitsregierung. Eine solche gab es in den fast 70 Jahren
seit der Gründung der Bundesrepublik noch nie. Man darf bezweifeln,
dass Angela Merkel, die am liebsten den Status quo verwaltet, sich
auf ein derartiges Spiel mit wechselnden Mehrheiten einlassen will.
Bleiben somit nur Neuwahlen, mit dem Risiko, dass alles so bleibt,
wie es heute ist.
Die Meinung der NZZ,
die deutschen Wähler würden nach dem Scheitern von Jamaika «möglicherweise anders reagieren», ist von viel
Zweckoptimismus geprägt. Wahrscheinlich ist nur, dass Angela Merkel
in einem solchen Fall erneut als Spitzenkandidatin der CDU antreten
wird. Die Kanzlerin ist angeschlagen, doch überzeugende Alternativen
sind nicht in Sicht.
Hoffen auf Neuanfang
Angela Merkel wirke «zunehmend wie eine Regierungschefin auf Abruf, ähnlich wie
Theresa May in Grossbritannien», hiess es an dieser Stelle nach den
Wahlen in Niedersachsen und Österreich. Vielleicht werden ihr die
deutschen Wählerinnen und Wähler angesichts der verfahrenen Lage
noch einmal das Vertrauen schenken. Ein Neuanfang wäre trotzdem
angebracht.
Deutschland steht
vor ungewissen Monaten. Das Land, seine Wirtschaft und seine
Institutionen sind stark genug, um dieses «Interregnum» zu
überstehen. Aus europäischer und globaler Perspektive aber wünscht
man sich, dass bald wieder stabile Verhältnisse herrschen. Mit oder
ohne Angela Merkel.
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