Viele konnten es am Montagmorgen kaum glauben: Die Sondierungen von CDU, CSU, FDP und Grünen über die Bildung einer Jamaika-Regierung sind gescheitert. Dabei hatten die eigentlichen Koalitionsverhandlungen noch gar nicht begonnen. Es war von Anfang an klar, dass die Gespräche zwischen den ungleichen Parteien schwierig verlaufen würden. Am Ende aber würde das Verantwortungsbewusstsein die ideologischen Differenzen überwinden, dachte man.
Es kam anders, die FDP liess die Gespräche im Streit um die Flüchtlingspolitik platzen. Nun weiss niemand, wie es weitergehen soll. Das schwarz-gelb-grüne Jamaika-Bündnis schien die einzige tragfähige Koalition zu sein, nachdem sich die SPD mit Getöse in die Opposition verabschiedet hatte. Die Bildung einer stabilen Regierung scheint nun illusorisch.
Die Wut der anderen Parteien richtet sich gegen die FDP. Sie habe die Sondierungen mit immer neuen Forderungen hintertrieben. FDP-Chef Christian Lindner allerdings konnte einer Regierungsbeteiligung zum heutigen Zeitpunkt nie viel abgewinnen. Den Liberalen steckt ihr Debakel mit der schwarz-gelben Regierung von 2009 bis 2013 in den Knochen, der sie als 15-Prozent-Partei beigetreten waren und die mit ihrem Rauswurf aus dem Bundestag endete.
«Die FDP konnte in dieser Koalition nichts gewinnen», schreibt die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Allerdings hat auch Deutschland mit dem Jamaika-Flop nichts gewonnen. Am Ende des «Superwahljahrs» 2017, in dem viele mit Bangen in die Niederlande, nach Frankreich oder Österreich geblickt haben, ist ausgerechnet Deutschland zu Europas Sorgenkind geworden.
Dabei war die Bundesrepublik seit ihrer Gründung 1949 auf stabile Verhältnisse ausgerichtet. Das Chaos der notorisch unruhigen Weimarer Republik mit ihren ständig wechselnden Regierungen, das mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 geendet hatte, sollte sich nicht wiederholen. Dafür sollte unter anderem die Fünf-Prozent-Hürde im Bundestag sorgen.
Während Jahrzehnten ging dieses Kalkül auf, Deutschland konnte stets auf Regierungen mit einer stabilen Mehrheit zählen. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft aber hat auch die Fünf-Prozent-Hürde nicht verhindert. Heute sitzt eine Rekordzahl von sieben Parteien im Bundestag, von denen die AfD gar nicht und die Linke nur bedingt als regierungstauglich gilt.
In gewisser Weise ist Deutschland zu einem normalen europäischen Land geworden. In den Niederlanden dauerte es Monate, bis eine neue Regierung zustande kam. In Österreich scheint es fraglich, ob eine schwarz-blaue Regierung wie erhofft bis Weihnachten gebildet werden kann. Für Europa aber ist die neue Normalität im wirtschaftlich stärksten Land keine gute Nachricht.
Gefordert ist in erster Linie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihre Rolle bei den Jamaika-Gesprächen wird zwiespältig beurteilt. Aus den Reihen der FDP attestiert man ihr eine «chaotische Verhandlungsstrategie» und versucht damit offensichtlich, ihr den schwarzen Peter zuzuschieben. Andere sagen, die Kanzlerin habe sich angesichts der vertrackten Lage gut geschlagen.
Für Merkels Image als führungsstarke Politikerin und «mächtigste Frau der Welt» allerdings ist das Scheitern eine Katastrophe. Bereits nach den deutlichen Verlusten ihrer CDU bei der Bundestagswahl und der Niederlage bei der Landtagswahl in Niedersachsen hatte die Kritik an der Kanzlerin auch aus den eigenen Reihen zugenommen. Es kam sogar zu Rücktrittsforderungen.
Die deutschen Medien sind sich uneinig, wie es nach dem Jamaika-Flop weitergehen soll. Die «Süddeutsche Zeitung» ist für eine Neuauflage der Grossen Koalition. «Die SPD muss jetzt mehr Verantwortung zeigen als die verantwortungslose FDP», fordert das Blatt aus München. Doch die Sozialdemokraten wollen davon nichts wissen, wie sie am Montag klarstellten.
Die FAZ tendiert zu einer Minderheitsregierung. Eine solche gab es in den fast 70 Jahren seit der Gründung der Bundesrepublik noch nie. Man darf bezweifeln, dass Angela Merkel, die am liebsten den Status quo verwaltet, sich auf ein derartiges Spiel mit wechselnden Mehrheiten einlassen will. Bleiben somit nur Neuwahlen, mit dem Risiko, dass alles so bleibt, wie es heute ist.
Die Meinung der NZZ, die deutschen Wähler würden nach dem Scheitern von Jamaika «möglicherweise anders reagieren», ist von viel Zweckoptimismus geprägt. Wahrscheinlich ist nur, dass Angela Merkel in einem solchen Fall erneut als Spitzenkandidatin der CDU antreten wird. Die Kanzlerin ist angeschlagen, doch überzeugende Alternativen sind nicht in Sicht.
Angela Merkel wirke «zunehmend wie eine Regierungschefin auf Abruf, ähnlich wie Theresa May in Grossbritannien», hiess es an dieser Stelle nach den Wahlen in Niedersachsen und Österreich. Vielleicht werden ihr die deutschen Wählerinnen und Wähler angesichts der verfahrenen Lage noch einmal das Vertrauen schenken. Ein Neuanfang wäre trotzdem angebracht.
Deutschland steht vor ungewissen Monaten. Das Land, seine Wirtschaft und seine Institutionen sind stark genug, um dieses «Interregnum» zu überstehen. Aus europäischer und globaler Perspektive aber wünscht man sich, dass bald wieder stabile Verhältnisse herrschen. Mit oder ohne Angela Merkel.