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Nach aussen bemüht man sich in Brüssel, den Ball flach zu halten. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte am Freitag, der Austritt Grossbritanniens werde «ernste politische Konsequenzen» mit sich bringen. Nun gelte es aber, nicht in Hysterie zu verfallen: «Wir haben uns auf dieses Szenario vorbereitet.» In Wirklichkeit herrschen Konsternation und Ratlosigkeit. In den nächsten Tagen wird in Brüssel und in den EU-Hauptstädten ein Krisentreffen auf das andere folgen.
Zwei Fragen werden im Zentrum stehen: Wie konnte das passieren? Und wie geht es weiter? Die Versuchung ist gross, das Votum der Briten mit ihrem eigenbrötlerischen Charakter zu erklären. Stets waren sie auf Distanz zum «Kontinent» bedacht, auch als EU-Mitglied haben sie auf Sonderregeln bestanden. Einzelne Stimmen behaupten, ohne die Querulanten von der Insel werde es der EU besser gehen. Dieser Ansatz aber zielt am Grundproblem vorbei.
Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte. Und genau das ist ein wesentlicher Grund, warum sie nach dem Ja zum Brexit in die grösste Krise ihrer Geschichte gerasselt ist. Seit den Römischen Verträgen von 1957, dem Gründungsakt der heutigen EU, wurde das europäische Einigungsprojekt laufend weiterentwickelt. Es profitierte dabei von einer in der Geschichte des Kontinents beispiellosen Epoche des Friedens und Wohlstands.
Die ursprüngliche
Wirtschaftsgemeinschaft wurde 1993 mit dem Vertrag von Maastricht in
den Binnenmarkt und in die Europäische Union überführt. Danach
erfolgten weitere Vertiefungen, nicht zuletzt motiviert durch das
Ende des Kalten Krieges und den Drang der ehemaligen Ostblockstaaten
in die EU. Die Einführung einer gemeinsamen Währung wurde
beschlossen. Mit dem Schengener Abkommen wurden die Grenzkontrollen
innerhalb der EU aufgehoben.
Ein wichtiger Aspekt kam dabei zu kurz: Die EU versäumte es, ihre Bürgerinnen und Bürger in den Prozess einzubeziehen. Die Briten waren von Anfang an weder beim Euro noch bei Schengen dabei. Die Dänen stimmten dem Maastricht-Vertrag erst im zweiten Anlauf zu, nachdem sie weit reichende Ausnahmeregeln erhalten hatten. Auch in anderen Ländern kam es wiederholt zu negativen Volksentscheiden. So lehnten Dänemark und Schweden den Euro ab.
Es fehlte somit nicht an Warnsignalen, dass im europäischen Einigungsprozess einiges schief läuft. Besonders deutlich wurde dies 2005, als Frankreich und die Niederlande eine gemeinsame europäische Verfassung ablehnten und das aufwändig erarbeitete Vertragswerk damit versenkten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten die führenden Politiker Europas realisieren müssen, dass ihre Völker Mühe haben mit dem Konzept einer «immer engeren Union».
Die Idee eines vereinigten Europas war stets ein Projekt der Eliten, während die «normalen» Menschen weiterhin in nationalen Kategorien denken. «Brüssel» blieb für sie ein abstrakter Begriff und gleichzeitig ein beliebter Sündenbock für Fehlentwicklungen, auch wenn die heimischen Regierungen dafür verantwortlich waren. Die EU bemühte sich zwar um mehr Demokratie, sie gab ihrem Parlament mehr Macht, aber das konnte die Entfremdung nicht aufhalten.
Nach der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 setzte sie sich beschleunigt fort. Eine galoppierende Staatsverschuldung, die in vielen Ländern grassierende Jugendarbeitslosigkeit und ein schwaches Wirtschaftswachstum geben vielen Menschen das Gefühl, dass sie vom Wohlstand zunehmend abgekoppelt werden. Die knallharte Austeritätspolitik, die den verschuldeten Euroländern aufgezwungen wurde, verstärkte die Ressentiments gegenüber der EU.
Hier kommt die verhängnisvolle Rolle Deutschlands ins Spiel. In der Eurokrise gebärdet sich das grösste EU-Mitglied als «Zuchtmeister» und verschärft das Problem gleichzeitig mit seinen massiven Exportüberschüssen. Dabei rächt es sich, dass Frankreich als «natürliches» Gegengewicht faktisch ausgefallen ist. Das Land ist durch wirtschaftliche Probleme und die anhaltende Terrorbedrohung gelähmt und wird von einem schwachen Präsidenten regiert.
Die Flüchtlingskrise hat die negativen Gefühle gegenüber Deutschland und der «Willkommenskultur» von Kanzlerin Angela Merkel verstärkt. Die Ablehnung der Flüchtlinge vermischt sich dabei mit einem Unbehagen gegenüber dem freien Personenverkehr innerhalb der EU. Die Briten haben als erstes Mitgliedsland ihre Türen für Migranten aus Osteuropa vollständig geöffnet. Nun hat kein Thema die Brexit-Befürworter so umgetrieben wie die Zuwanderung.
Hurrah for the British! Now it is our turn. Time for a Dutch referendum! #ByeByeEUhttps://t.co/kXZ0aQtgmx
— Geert Wilders (@geertwilderspvv) June 24, 2016
Jetzt muss sich die EU fragen, wie es weitergeht. Marine Le Pen und Geert Wilders fordern bereits Exit-Abstimmungen in ihren Ländern. Die EU kann eine verhängnisvolle Kettenreaktion nur aufhalten, wenn sie sich erneuert. Die Krisen der letzten Jahre haben aufgezeigt, dass der Euro und die Abkommen von Schengen und Dublin Schönwetterkonstrukte sind, wie der frühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer letztes Jahr im watson-Interview zugeben musste.
Eine gemeinsame Währung funktioniert nicht ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Auch bei der Aussen- und Sicherheitspolitik ist eine Vertiefung angesagt. Nicht alle Mitglieder werden dabei mitmachen wollen. Der Ausweg ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, «sodass diejenigen Mitgliedstaaten, die wollen, noch enger zusammenrücken können, und diejenigen, die sich lediglich auf einen gemeinsamen Binnenmarkt beschränken wollen, dies ebenfalls tun können», wie der frühere belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt auf Focus Online schrieb.
Die Umsetzung wird nicht einfach sein. Gelingt sie, kann das vereinigte Europa seine tiefe Krise überwinden und wieder zur Erfolgsgeschichte werden. Die Voraussetzungen sind besser, als man derzeit vermuten mag. Umfragen zeigen, dass die EU bei der jüngeren Generation die grösste Akzeptanz geniesst.
Auch in Grossbritannien haben die Jungen klar gegen den Austritt gestimmt. Sie haben ein Europa schätzen gelernt, in dem man problemlos herumreisen, fast überall mit dem gleichen Geld bezahlen und ohne viel Aufwand eine Arbeit annehmen oder eine Ausbildung absolvieren kann.
Eine Rückkehr zu einem Europa der Nationalstaaten kann keine Option sein. Der Kontinent würde im Konzert der Weltmächte irrelevant. Gerade die von EU-Gegnern als leuchtendes Vorbild gepriesene Schweiz hat in den letzten Jahren auf die harte Tour erlebt, wie machtlos ein vermeintlich souveräner Nationalstaat ist, wenn er von den Grossmächten in den Schwitzkasten genommen wird.