Sonntagnachmittag in Chemnitz. Bereits einige Stunden nach dem tödlichen Messerangriff auf einen 35-Jährigen verbreitet sich ein Aufruf zu einer spontanen Demonstration im Internet. Die Demonstration endet schliesslich in Jagdszenen, Neonazis greifen Migranten an.
Der Aufruf zur Demo wurde auch von Privatpersonen per WhatsApp verbreitet. Einer, der das miterlebt hat, ist Martin S. aus Chemnitz. Martin ist Mitte 30 und heisst eigentlich anders. Damit er nicht selber in den Fokus von Rechtsextremen gerät, haben wir seinen Namen geändert.
«Am Sonntag ging es direkt los», erzählt er. «Der Aufruf von ‹Kaotic Chemnitz› wurde von diversen Leuten als Screenshot geteilt und als WhatsApp-Status gepostet. Da habe ich mich schon gefragt: Wissen die eigentlich, was sie da posten und wer dahinter steckt?»
Dahinter steckt eine Ultra-Gruppe, die sich aus dem rechtsextremen Milieu rekrutiert.
Die Aufrufe hätten schnell die Runde gemacht, sagt Martin. «Die Leute, die das geteilt haben, waren in Anführungszeichen ‹ganz normale Leute›. Von der Arzthelferin, bis zum Müllmann.»
Nicht nur als Status, auch in WhatsApp-Gruppen wird der Protest-Aufruf geteilt.
Nach der eskalierten Demonstration am Sonntag verschickt ein Mitglied der Gruppe eine Sprachnachricht, in der es berichtet, wie «Kanacken» gejagt werden. In anderen Sprachnachrichten werden mittlerweile widerlegte Falschnachrichten verbreitet: Dass offenbar ein zweites Opfer verstorben sei etwa, oder dass der Tat die Belästigung einer Frau vorangegangen sei.
Vor allem die Falschinformation über einen zweiten Toten verbreitet sich im Laufe des Sonntags auch ausserhalb von Chemnitz rasant. Sogar international wurde sie tausendfach geteilt, wie Recherchen von Motherboard zeigen.
Nach der zweiten Demonstration am Montagabend, die erneut eskaliert, geht die Stimmungsmache per WhatsApp weiter. «Nach der Demo wurde dann ein Bild von Migranten mit einer Antifa-Fahne verbreitet und sich darüber echauffiert», berichtet Martin.
Und auch der illegal veröffentlichte Haftbefehl gegen einen der beiden Tatverdächtigen des Messerangriffs verbreitet sich unter anderem per WhatsApp. Am Dienstagabend leitet jemand eine Kopie des Haftbefehls an die Gruppe weiter, in der auch Martin Mitglied ist – komplett ungeschwärzt.
In den meisten Versionen, die Rechtsextreme im Internet veröffentlicht hatten, war zumindest die Wohnanschrift des Tatverdächtigen unkenntlich gemacht. Die rechtsextreme Gruppe «Pro Chemnitz» verband die Veröffentlichung des Haftbefehls direkt mit einem Spendenaufruf und Werbung für die nächste rechte Kundgebung am Donnerstag.
Auch die nicht-öffentliche Verbreitung in WhatsApp-Gruppen dürfte zur Mobilisierung beitragen – mit dem Unterschied, dass die Ausmasse dieser Mobilisierung von aussen schwer einzuschätzen sind.