Herr Spillmann, wieso sitzt Deniz Yücel noch immer in einer Gefängniszelle in Silivri bei Istanbul?
Markus Spillmann: Das ist eine schwierige Frage. Es ist ja weiterhin unbekannt, was Yücel genau vorgeworfen wird. Offensichtlich tut sich die Staatsanwaltschaft schwer, ihm etwas Hieb- und Stichfestes nachzuweisen. Das lässt vermuten, dass die türkische Regierung Deniz Yücel als eine Art Pfand, als Geisel benutzt.
Ein Pfand wofür?
Die Türkei sieht in der Haft Yücels eine Möglichkeit, die deutsche Regierung zu einem Verhalten zu bringen, wie es sich Erdogan wünscht. Insbesondere hofft man darauf, dass sich Deutschland im Gegenzug für eine Freilassung Yücels bereit erklärt, von der Erdogan-Regierung als Gülen-Anhänger verdächtigte türkische Staatsbürger auszuliefern.
In der Türkei befinden sich über 100, manchen Quellen zufolge sogar mehr als 200 Journalisten im Gefängnis. Was macht den Fall Deniz Yücel so besonders?
Yücel ist gewissermassen zum Symbol für die Repression gegen Journalisten in der Türkei geworden. Zugleich macht ihn seine deutsch-türkischer Doppelbürgerschaft zu einem politischen Pfand. Die grosse Solidarität in der deutschsprachigen Medienwelt und die grosse Bekanntheit, die Yücel bereits vor seiner Verhaftung hatte, tragen zusätzlich dazu bei.
Weshalb ist es der deutschen Regierung nicht gelungen, die Türkei zu einer Freilassung Yücels zu bewegen?
Man kann das ganz einfach formulieren: Erdogan fühlt sich schlicht nicht genügend unter Druck gesetzt, das zu tun. Die Gründe dafür mögen eine gewisse Grossmannssucht sein oder ein übersteigerter Nationalismus. Aber richtig ist auch: Erdogan weiss, dass sowohl Deutschland, als auch die gesamte EU und die USA die Türkei brauchen. Deshalb kann er sich die fortgesetzte Inhaftierung Yücels erlauben.
Vielleicht setzt sich Deutschland ja auch zu wenig energisch für seinen Bürger ein.
Im Fall Deniz Yücel spielt der in der Politik verbreitete Zynismus eine Rolle. Klar ist der deutschen Regierung das Leben und die Freiheit Yücels etwas wert und der türkischen Regierung die Beziehungen zu Deutschland. Aber in der Politik hat alles einen gewissen Preis, der genau abgewogen wird. Keine Seite ist derzeit bereit, für eine Lösung im eigenen Sinne einen unverhältnissmässig hohen Preis zu zahlen.
Sitzt Deniz Yücel in einem Jahr immer noch im Gefängnis?
Das ist unmöglich vorauszusagen. Alle, die sich für ihn einsetzen, hoffen natürlich auf eine baldige Freilassung. Aber alleine die Tatsache, dass er bereits ein Jahr einsitzt, stimmt nicht sehr optimistisch. Die politische Situation in der Türkei und ihrer Nachbarländern deutet derzeit eher auf eine Verhärtung der Fronten hin.
Sie haben im September 2017 als den Prozess gegen fünf Journalisten der regierungskritischen Zeitung «Cumhuriyet» mitverfolgt. Welche Parallelen gab es da zum Fall Yücel?
Grundsätzlich sind alle Vorwürfe, welche gegen Journalisten in der Türkei erhoben werden, absurd. Die Fälle gleichen sich stets: Kritischen Journalisten wird vorgeworfen, terroristische Organisationen zu unterstützen. Manchmal soll es die Gülen-Bewegung sein, manchmal die PKK, manchmal beides gleichzeitig, obwohl sich das eigentlich ausschliesst. Hinzu kam beim «Cumhuriyet»-Prozess der Vorwurf, die Journalisten würden mit gewissen Recherchetätigkeiten die nationale Sicherheit gefährden. Sie hatten Verstrickungen zwischen dem türkischen Geheimdienst und der Terrormiliz «Islamischer Staat» publik gemacht. Bei Deniz Yücel liegt noch keine Anklage vor. Sie dürfte aber ähnlich lauten.
Welche Eindrücke erhielten Sie im Gerichtssaal?
Der Prozess selber war eine relativ unspektakuläre Sache. Die Angeklagten wurden in Begleitung ihrer Verteidiger in den Gerichtssaal geführt, es folgten Plädoyer und Gegenplädoyer. Oberflächlich machen diese Prozesse den Anschein, nach korrekten Regeln abzulaufen. Beide Seiten gehen mit grosser Ernsthaftigkeit zur Sache. Das Problem dabei: Die Verfahren sind nicht fair, von Transparenz und Unschuldsvermutung keine Spur. Die Richter sind keinesfalls unabhängig, sie folgen den Wünschen Erdogans. Die Urteile stehen deshalb von Anfang an fest. Nach rechtsstaatlichen Kriterien sind diese Verfahren völlig unzureichend.
Sie halten sich derzeit in Österreich auf, wo ein Facebook-Post von Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) für Aufruhr sorgt. Darin wird der ORF-Moderator Armin Wolf als Lügner bezeichnet. Auch US-Präsident Trump wirft den Medien regelmässig vor, «Fake News» zu verbreiten. Welche Auswirkungen haben solche Äusserungen?
Das Verhalten von demokratisch gewählten Politiker in demokratischen Rechtsstaaten im Umgang mit der Presse hat Auswirkungen auf die Meinungsäusserungsfreiheit auf der ganzen Welt. Die Attacken von Trump, Strache oder Exponenten der AfD auf die Presse sind Wasser auf die Mühlen von Autokraten wie Erdogan.
Politiker sollen sich doch wehren können, wenn sie sich von der Presse ungerecht behandelt fühlen.
Grundsätzlich ja, aber sowohl Trump als auch Strache geht es nicht um Stilfragen oder legitime Kritik gegenüber einzelnen Artikeln oder Sendungen. Hinter ihrer Feindlichkeit gegenüber den Medien steckt eine Systematik, eine Erosion von Werten. Die Medien werden diffamiert, die Pressefreiheit grundsätzlich in Frage gestellt. Das ist zersetzend und schadet dem demokratischen Miteinander.
Was kann man dagegen tun?
Ich denke, jeder Einzelne sollte sich immer wieder bewusst machen, was ihm eine seriöse und freie Berichterstattung wert ist. Auch wenn man sich vielleicht manchmal über die Medien ärgert: Die Pressefreiheit, das Recht auf freie Meinungsäusserung sind überlebenswichtig für eine Demokratie. Und es gibt mächtige Kreise, die sie einschränken wollen. Ich appelliere deshalb an alle Medienkonsumenten: Bleibt kritisch, überlegt euch, wem man trauen kann. Klatscht nicht aus einer Laune heraus jenen Kräften zu, welche die Medien und ihre Freiheit frontal angreifen.
Hinweis 1: Am heutigen Jahrestag seiner Verhaftung erscheint ein Buch mit Reportagen, Glossen, Kommentare von Yücel aus den vergangen zehn Jahren sowie einen bislang unveröffentlichten Text aus dem Gefängnis.
Doris Akrap (Hrsg.), Deniz Yücel: «Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Reportagen, Satiren und andere Gebrauchstexte.» Hamburg: Edition Nautilus.
Hinweis 2: Eine aktualisierte Liste mit sämtlichen in der Türkei inhaftierten und polizeilich gesuchten Journalisten gibt es auf der Website des «Stockholm Center for Freedom».