
Todesfälle durch Ersticken und Todesfälle durch Terror in Deutschland im Vergleich. Warum fürchten wir uns vor der weit unwahrscheinlicheren Todesursache trotzdem viel mehr?screenshot: youtube/tagesschau Terror und Amokläufe sind in den Medien allgegenwärtig. Die Terrorangst wächst. In den Kommentarspalten fragen sich die watson-User zurecht, ob die Gewalt zugenommen hat oder ob die Medien einfach mehr darüber berichten. Ein Erklärungsversuch.
27.07.2016, 14:0527.07.2016, 14:38

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Entgegen anderslautenden Darstellungen ist der Terror in Europa kein neues Phänomen. Wir hatten ihn vergessen und verdrängt – und wir werden ihn wieder vergessen.
Die Wahrscheinlichkeit in Europa Opfer eines Terroranschlags zu werden,
liegt bei 0,002 Prozent. In der Schweiz ist das Risiko noch geringer.
Befragungen zeigen immer wieder, dass die statistisch gesehen minimale Gefahr Opfer eines Anschlages zu werden, massiv überschätzt wird. Dafür gibt es eine plausible Theorie: Da Terroranschläge und Amokläufe die Menschen massiv mehr interessieren als «gewöhnliche» Unfälle oder Naturkatastrophen, informieren Medien ausgiebig über Attentate. Dies gilt um so mehr, wenn sie wie in Nizza und München in unserer Nähe stattfinden.
Spektakuläre Ereignisse wie 9/11 oder der Germanwings-Absturz bleiben zudem länger in Erinnerung, was uns das Risiko für Attentate oder einen Flugzeugabsturz überschätzen lässt. Umgekehrt unterschätzen wir die Gefahr, im Strassenverkehr, bei einem Berufsunfall oder durch einen Wespenstich zu sterben, da über unspektakuläre Ereignisse weniger informiert wird. Oder hast du gewusst, dass in China allein in diesem Monat über 300 Menschen bei Überschwemmungen gestorben sind – mehr als hundert davon am letzten Wochenende.
Woher kommt die neue Angst vor dem Terror?
Ein watson-User stellt die Frage, die wir uns insgeheim in den letzten Tagen wohl alle gefragt haben:
Eine mögliche Antwort liefert ein anderer watson-User:
Soziale Medien wie Twitter und Facebook sowie Smartphones mit News-Apps bringen Terror und Amokläufe innert Sekunden ins Bewusstsein von Millionen Menschen. Medien haben die Pflicht zu informieren – auch über Unangenehmes. Sie spielen damit aber auch den Terroristen und Populisten in die Hände, die Angst und Hass verbreiten wollen.
Was Terroristen und Populisten gemeinsam haben
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Dazu kommt, dass Medien über Ereignisse, die wie in Nizza und München quasi vor der Haustüre stattfinden, weit ausführlicher berichten als über Ereignisse in Syrien, Afghanistan oder im Irak, wo Terroranschläge an der Tagesordnung sind. Nizza und München, aber auch der Mord an 19 Menschen in einem Behindertenheim in Japan, haben daher fast alle von uns mitbekommen. Diesen drei Bluttaten ist gemein, dass es sich um Ereignisse in wohlhabenden Ländern handelt, in denen man weniger mit Anschlägen rechnet, als in Konfliktregionen. Doch hast du gewusst, dass in Kabul fast gleichzeitig über 80 Menschen durch Selbstmordattentäter ihr Leben verloren haben? Oder dass es gestern in Mogadischu mehrere Tote bei einem Anschlag am Flughafen gab? Diesen beiden Attentaten ist gemein, dass es sich um Ereignisse in armen Ländern handelt, die zudem als klassische Krisenherde gelten.
Obwohl in Kabul über acht Mal mehr Menschenleben als in München ausradiert worden sind, wurde der Live-Ticker auf watson zu München weit über 100 (!) Mal öfter angeklickt, als mehrere Artikel zu Kabul zusammen. Selbst ein Push-Alarm zum blutigsten Anschlag in Afghanistan seit zehn Jahren konnte daran nichts ändern. Ob Kabul, Mogadischu oder Bagdad, das Interesse der Leser tendiert gegen Null, weil der Terror zum Alltag gehört.
Dieser Zusammenhang zwischen dem Wohlstand eines Landes und der Häufigkeit der Terrorberichterstattung bzw. dem Interesse der Leser lässt sich auch grafisch darstellen:
Das Bruttosozialprodukt eines Landes korreliert mit der Terror-Berichterstattung

Die Grafik zeigt: Je reicher das vom Anschlag betroffene Land ist, desto eher berichtet die «New York Times» über einen Terroranschlag. Dieser Zusammenhang gilt mit höchster Wahrscheinlichkeit für die Medien im Allgemeinen. Die Folge: Wir überschätzen die Terrorgefahr bei uns und unterschätzen die Terrorgefahr andernorts. grafik: fivethirtyeight Das könnte dich auch interessieren
(oli)
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