Diese Geschichte beginnt mit einem mysteriösen Anruf aufs Handy. «Du kennst mich nicht. Ich kenne dich nicht. Aber ich habe dich gegoogelt», sagt die Männerstimme auf Englisch. Andrej stellt sich als Mitarbeiter der russischen Botschaft vor. Er habe den Auftrag, zwei junge Schweizer Journalisten für einen viertägigen Workshop in Moskau zu rekrutieren. Weitere Informationen will er nur mündlich geben. «Übermorgen Mittag um 13 Uhr auf dem Bundesplatz.»
Zweieinhalb Wochen später sitzen wir im Airbus A320 der staatlichen russischen Fluggesellschaft Aeroflot. Was uns erwartet, wissen wir nur ansatzweise. Das Image seines Landes sei schlecht, hatte Andrej gesagt, der uns mit Aktentasche und suchendem Blick vor der Schweizerischen Nationalbank erwartet hatte. Weshalb, könne er sich auch nicht erklären. Jedenfalls wolle uns seine Regierung «die andere Seite» zeigen. Er sollte recht behalten.
«Moskau ist die schönste Stadt der Welt», sagt die Reiseführerin, die uns gemeinsam mit 29 anderen Journalisten im Alter zwischen 25 und 35 Jahren an der Basilius-Kathedrale, den Kreml-Mauern und dem Lenin-Mausoleum vorbei zum Auferstehungstor am Ende des Roten Platzes führt. «Und Präsident Putin macht unsere Stadt noch schöner.» Von unseren neuen Kolleginnen und Kollegen widerspricht niemand. Sie kommen aus 18 verschiedenen Ländern, von A wie Algerien bis S wie Syrien – aus Westeuropa sind ausser uns nur zwei dänische Radiojournalisten dabei. Wie uns bezahlt die russische Regierung auch allen anderen die komplette Reise. Wie wir haben sie sich weder zu einer Berichterstattung noch zu sonst etwas verpflichtet. Und wie wir wissen die meisten von ihnen nicht, weshalb sie ausgewählt worden sind.
Haben wir in der Vergangenheit auffallend positiv über Russland berichtet? Gelten wir der russischen Botschaft in Bern als Putin-Versteher? Oder wollen sie uns bekehren? Unsere Fragen bleiben unbeantwortet. Andrej hatte nur gesagt, dass man ihn beauftragt habe, keine Auslandredaktoren zu rekrutieren, weil deren Bild von Russland in aller Regel negativ und festgefahren sei.
Nach der Touristentour werden wir ins Herz des russischen Medienapparats geführt. Die Nachrichtenagentur Sputnik nimmt für sich in Anspruch, über Themen zu berichten, die andere verschweigen. Auf Englisch klingt das noch knackiger: «Sputnik – telling the untold.» Von 130 Standorten in 34 Ländern informieren die Agentur und die zugehörigen Radiokanäle in 30 Sprachen, darunter auch auf Deutsch. «Klar machen wir Propaganda», sagt Anton Anisimov, der Auslandchef von Sputnik. «Aber glaubt ihr ernsthaft, die Nachrichtenagenturen Reuters und AP und die international ausgerichteten Medienmarken BBC, CNN, Al-Jazeera und Deutsche Welle würden objektiv berichten?»
Wladimir Putin höchstpersönlich veranlasste die Gründung von Sputniks Mutterkonzern, Rossija Sewodnja («Russland Heute»), im Dezember 2013. Ein paar Monate später beförderte der Präsident den Medienkonzern – wie die Rüstungsfirma Kalaschnikow – in die Gilde der Unternehmen mit «strategischer Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit und Sicherheit des Staates sowie für den Schutz der Moral, der Gesundheit, der Rechte und legitimen Interessen der Bürger». Sein Ziel: Sputnik und der ebenfalls weltweit operierende TV-Sender RT (Russia Today) sollten das «angelsächsische Monopol in der globalen Informationsverteilung brechen».
Versuchten die international operierenden staatlichen russischen Medien früher, mit positiven Nachrichten aus Russland ein positives Bild ihres Landes zu vermitteln, vollzogen sie auf Geheiss des Kremls nach dem Georgien-Krieg 2008 eine Kehrtwende: Statt das eigene Land schönzufärben, wandten sie sich nun dem Ausland zu. Seither ist russische Innenpolitik nur noch selten Thema. Stattdessen berichten die Journalisten von Sputnik und RT, die in aller Regel gar keine Russen sind, über die Politik der Zielländer.
An der Spitze von Rossija Sewodnja steht mit Dmitrij Kisseljow der einzige russische Journalist, der im Rahmen der Krim-Krise auf die auch von der Schweiz mitgetragene EU-Sanktionsliste gesetzt wurde. Seit zweieinhalb Jahren sind ihm Reisen nach Europa untersagt, weil er «eine zentrale Figur der Regierungspropaganda» sei, wie es in der Begründung Brüssels heisst. Wie sein Auslandchef Anisimov hält Kisseljow Objektivität für einen Mythos. «Mit unserer Arbeit verteidigen wir uns gegen die Lügen des Westens», sagt der 62-Jährige. «In gewisser Weise sind wir der Schutzschild unseres Vaterlandes.»
Uns Nachwuchsjournalisten aus aller Welt wird im Hauptquartier von Rossija Sewodnja eine Aufgabe gestellt: Auf Newsportalen sollen wir vergleichen, wie russische und wie westliche Medien in den vergangenen Wochen über die Kriegshandlungen im syrischen Aleppo und in der irakischen Stadt Mossul berichteten. Besonderes Augenmerk sollen wir dabei auf die Quellen legen, die einem Artikel zugrunde liegen, und auf die Frage, ob lediglich eine einzige oder ob mehrere Sichtweisen präsentiert werden. Schnell zeigt sich: Während sich Sputnik, RT und weitere englischsprachige russische Medien primär auf Angaben der eigenen Regierung stützen, zitieren westliche Nachrichtenagenturen und Qualitätszeitungen primär US-amerikanische Sprecher und Experten. Das Fazit unserer Kursleiter: Objektivität und Wahrheit gibt es nicht, weil jede Information immer von einem Absender mit Eigeninteressen stammt und gefiltert weitergereicht wird.
Entsprechend geht es weder der russischen Regierung noch den russischen Medien darum, einen mit dem Westen ausgetragenen Kampf um die Wahrheit zu gewinnen. Stattdessen wollen sie Zweifel säen, wollen sie den Glauben an die Möglichkeit, es gäbe eine Wahrheit, zersetzen. Das Kalkül: Wenn niemand mehr glaubwürdig ist und nichts mehr Bestand hat, steigt die Verunsicherung der Bürger in den westlichen Ländern – und das Vertrauen in die Regierungen sinkt. Konsequenterweise verstärkte Sputnik jüngst seine Aktivitäten in Ländern wie Serbien und Polen, in denen die Demokratie in eine Krise geraten ist. Konsequenterweise unterstützten russische Medien, Politiker und Hacker die Kandidatur Donald Trumps fürs US-Präsidium und freuen sich nun lauthals über seinen Sieg. Konsequenterweise unterstützt Russland den französischen Front National von Marine Le Pen mit Millionen-Beiträgen.
Im Westen fällt die russische Strategie auf fruchtbaren Boden. Überall befinden sich die Medien in einer Vertrauenskrise. In Deutschland etwa stimmten vor einem Jahr in einer repräsentativen Umfrage 44 Prozent der Aussage zu, die «von oben gesteuerten Medien» würden «nur geschönte und unzutreffende Meldungen» verbreiten. Die Überzeugung, die «Lügenpresse» verschweige die Wahrheit, ist Mainstream geworden – und beinahe mehrheitsfähig.
Auch bei uns Jungjournalisten wächst während des Workshops die Verunsicherung. Warum stützen die westlichen Medien ihre Berichte nur auf ihre Regierungen, wieso lassen sie ausschliesslich westliche Experten zu Wort kommen? Hat diese Einseitigkeit System oder haben unsere russischen Kursleiter bloss ein perfektes Beispiel gewählt, weil Journalismus in unüberblickbaren Kriegssituationen wie in Aleppo und Mossul fast nur «embedded» – sprich im Schutze einer Armee – betrieben werden kann und so notgedrungen einen Blickwinkel einnimmt? «Das ist ein Informationskrieg», warnte der litauische Aussenminister Linas Linkevičius vor anderthalb Jahren. «Und wir verlieren ihn.» (aargauerzeitung.ch)