Zur «Hochzeit» gibt's den Sprengstoffgürtel – so ködert der «IS» junge Frauen
Es sind Dutzende von französischen Familien, die sich jedes Jahr an Dounia Bouzar wenden und sagen: «Mein Kind will in den Dschihad.» Oder schlimmer: «Mein Kind ist nach Syrien gegangen.» Es sind verzweifelte Eltern von jungen Frauen und Männern. Von Teenagern, die mit einer geschickten Mischung aus Popkultur, Liebes- oder Erlösungsversprechen und Gehirnwäsche radikalisiert werden.
Dounia Bouzar lebt in Paris und steht unter ständigem Polizeischutz. Die Tochter eines Algeriers und einer Korsin konvertierte selbst mit 30 Jahren zum Islam und ist heute ist eine prominente Religionsanthropolgin. Ihr Zentrum für Prävention, Entradikalisierung und individuelle Betreuung (CPDSI) kümmert sich um die Entradikalisierung und Nachbetreuung von 1100 Jugendlichen. Was mit ihnen während des Rekrutierungsprozesses durch islamische Extremisten geschieht, beschreibt Bouzar selbst am anschaulichsten:
Der Einstieg erfolgt selten über religiöse Sinnfragen, sondern über eine harmlose Suche nach Stichworten wie ‹Gentechnisch veränderter Organismus› oder ‹Rinderwahnsinn›. Aberhunderte von Klicks führen dann von ‹vertuschten Skandalen› und ‹geheimen Affären› über angebliche Komplotte von Freimaurern und Zionisten hin zur ‹Offenbarung›, das Opfer zähle zu den Auserwählten, die die verderbte Welt retten müssten: Es sei ein endzeitlicher Krieger.
Die Indoktrinierung greift auf Methoden zurück, die man von Sekten her kennt. Das Opfer wird dazu gebracht, alle Bande zu kappen: zu den Freunden, zur Schule, zur Familie und – mit der Ausreise nach Syrien – zum Wohnort. Eine richtige Gehirnwäsche: Das denkende Individuum wird durch einen Automaten ersetzt, der nachplappert und -macht, was ‹Gottes Gebote› ihm diktieren.»
Ihre Expertise bringt sie nun in einen Spielfilm ein. Indem sie sich selbst spielt. Indem sie eine Gruppe aus fiktiven Eltern und eine Tochter betreut. Der Film heisst «Le ciel attendra», gedreht hat ihn Marie-Castille Mention-Schaar, und wir folgen dabei den gegenläufigen Geschichten von zwei Teenagern: Die 17-jährige Sonia kommt langsam wieder in die französische Normalität zurück; die 16-jährige Mélanie will via Istanbul nach Syrien.
Sonia will als Märtyrerin im Bombenhagel sterben und plant ein Attentat, doch dann stürmt die Polizei ihr Elternhaus. Danach steht sie unter Hausarrest. Ihr Vater hängt die Badezimmertür aus, damit sie sich nicht mehr in die Dusche zum Beten zurückzieht. Nur langsam verwandelt sich Sonia aus einem kaltäugigen, rabiaten Tier zurück in etwas Menschenähnliches.
Mélanie will in Syrien ihren Märchenprinzen Mehdi heiraten, der ihr seit Monaten online den Hof macht, ihr Rekrutierungsvideos schickt – erst mit Raubkatzen, dann mit toten Kindern – und sie schliesslich zu seinem Besitz erklärt. Per Amazon bestellt sich Mélanie einen Niqab. Und wie hat Mehdi sie gefunden? Auf Facebook. Sie zeigte sich dort verwundbar. Zu sensibel und zu einsam.
Dazwischen erklärt Bouzar den überforderten Eltern und uns Zuschauern, wie die Symbolik der Verführung und Indoktrinierung funktioniert, wie den Mädchen als «Hochzeitsgeschenk» ein Kätzchen und eine Kalaschnikow versprochen wird, wie dadurch etwas Herziges, Verspieltes mit Gewalt kurzgeschlossen wird. Was die Mädchen wirklich erwarte, sagt sie, sei weder ihr Prinz noch ein Kätzchen, sondern ein Rekrutierungslager und ein Sprengstoffgürtel. Keine einzige der minderjährigen Französinnen sei jemals aus dem Dschihad zurückgekehrt, sagt sie, keine.
«Le ciel attendra» ist bestürzend in seinem genauen Blick auf die Mechanik der Radikalisierung. Mehr pädagogische Dokufiction als Fiction. Man sollte ihn sich unbedingt mit Schulklassen anschauen. «Ist das nicht zu dick aufgetragen?», fragte sich die Süddeutsche Zeitung besorgt und rief Dounia Bouzar an. Nein, sagte diese, genau das sei ihr Alltag.
«Le ciel attendra» läuft jetzt im Kino.
