Die dubiosen Anschläge in Russland 1999 – waren sie Putins Gesellenstück?
Im Spätsommer 1999 erschütterte eine Serie von Bombenexplosionen Russland. Mehr als 300 Menschen starben bei den Anschlägen auf Wohnhäuser in mehreren Städten – eine der weltweit tödlichsten Terrorattacken vor dem 11. September 2001. Es ist diese Anschlagsserie, die jetzt, nach dem verheerenden Terroranschlag in Moskau, in Medienberichten garantiert dann zur Sprache kommt, wenn der Verdacht auf eine verdeckte Operation des Kremls diskutiert wird.
Das ist kein Zufall. Von Anfang an waren die Stimmen im In- und Ausland laut, die dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB unterstellten, er habe diese Anschläge selbst durchgeführt. Seltsame Ungereimtheiten, das eklatante Desinteresse der russischen Behörden an der Aufklärung und nicht zuletzt mysteriöse Todesfälle in den Reihen derjenigen, die der Sache nachgingen, lieferten die Indizien für eine mutmassliche False-Flag-Operation.
Was damals wirklich geschah, wird man vielleicht nie wissen. Doch diese Anschlagsserie, ob sie nun vom FSB orchestriert war oder nicht, hatte schwerwiegende Folgen: Ohne die Geschehnisse im September 1999 wäre ein gewisser Wladimir Putin wohl nie Präsident der Russischen Föderation geworden.
Die Ausgangslage
Ende 1991 brach die Sowjetunion zusammen. Dem letzten Präsidenten Michail Gorbatschow war es nicht gelungen, das Ruder herumzureissen. Russland, der Nachfolger der untergegangenen Supermacht, umarmte darauf unter Präsident Boris Jelzin Demokratie und Kapitalismus. Doch nun folgte, was im Bewusstsein vieler Russen noch immer als chaotische, gar traumatische Phase verankert ist: Radikale wirtschaftliche Reformen brachten zwar Konsumgüter in nie dagewesener Fülle in die Ladenregale, aber zugleich stiegen die Einkommensunterschiede in schwindelnde Höhen.
Hyperinflation und die marode Wirtschaft stürzten weite Teile der Bevölkerung in Armut. Zwischen 1990 und 1996 sank das russische BIP um mehr als 50 Prozent. Erst ab 1999 wuchs die Wirtschaft in Russland wieder. Die «wilden 90er» mit ihrer massiven Deregulierung machten wenige reich, doch die grosse Mehrheit hatte, auch angesichts der zunehmenden Kriminalität, mit Gefühlen ständiger Unsicherheit und Bedrohung zu kämpfen.
Aussenpolitisch schwand der Einfluss Moskaus dramatisch, im Inneren des nach wie vor grössten Staates der Welt nahmen separatistische Tendenzen zu. Russland drohte dasselbe Schicksal wie der Sowjetunion – der Zerfall in unabhängige Einzelstaaten. Exemplarisch zeigte sich das in der Weigerung der Republik Tschetschenien, ihren Beitritt zur Russischen Föderation rechtlich anzuerkennen. Die Zentralmacht intervenierte militärisch, was Ende 1994 in den Ersten Tschetschenienkrieg mündete. Der schlecht geplante Feldzug endete nach schweren Verlusten 1996 mit einem Waffenstillstand, der den politischen Status Tschetscheniens offenliess.
Jelzin schaffte 1996 die Wiederwahl zum Präsidenten, doch er war bereits gesundheitlich und politisch angeschlagen, was sich in ständigen Regierungswechseln niederschlug. Als letzten Ministerpräsidenten ernannte der zusehends unbeliebte Jelzin am 9. August 1999 den Direktor des Inlandsgeheimdiensts FSB, der zu Sowjetzeiten ein unbedeutender KGB-Offizier gewesen war. Sein Name: Wladimir Putin.
Die Anschlagsserie
Die Serie der Anschläge begann, nachdem das russische Parlament, die Duma, Mitte August 1999 die Ernennung Putins zum Ministerpräsidenten mit knapper Mehrheit gebilligt hatte.
- Am 31. August um 20 Uhr ging in einer Einkaufspassage am zentralen Moskauer Manege-Platz eine Bombe hoch. Mindestens 29 Menschen wurden verletzt. Dieser Anschlag traf im Gegensatz zu den späteren kein Wohngebäude und forderte auch bedeutend weniger Opfer. Ein anonymer Anrufer reklamierte den Anschlag am 2. September für die «Befreiungsarmee von Dagestan».
- Am späten Abend des 4. Septembers explodierte eine enorme Sprengladung auf einem Lastwagen vor einem fünfstöckigen Wohnhaus am Stadtrand von Buinaksk in der russischen Republik Dagestan im Nordkaukasus. Die Kaserne, in der russische Soldaten und ihre Familien untergebracht waren, stürzte wie ein Kartenhaus zusammen und begrub 64 Menschen, darunter 23 Kinder, unter den Trümmern. 133 Menschen wurden verletzt.
Eine Bombe in einem zweiten Lastwagen, der auf dem Parkplatz vor einem Armeekrankenhaus stand, konnte entschärft werden; im Fahrzeug fanden sich Papiere auf den Namen Issa Sainutdinow. - Fünf Tage später, am 9. September, explodierte ein Sprengsatz im Erdgeschoss eines neunstöckigen Gebäudes an der Uliza Gurjanowa in einem Arbeiterviertel im Südosten Moskaus. 106 Bewohner starben im Schlaf, 249 wurden verletzt. Eine russische Nachrichtenagentur erhielt einen Anruf, in dem der Anschlag als Antwort auf russische Bomben auf Dörfer in Tschetschenien und Dagestan bezeichnet wurde.
- Am 13. September meldeten Anwohner kurz nach Mitternacht verdächtige Aktivitäten in einem Wohnhaus an der Kaschirskoje Chaussee im Süden Moskaus. Die Sicherheitskräfte fanden nichts Ungewöhnliches und zogen um 2 Uhr wieder ab. Doch kurz nach 5 Uhr explodierte eine Sprengladung in einer Wohnung und zerstörte das achtstöckige Gebäude völlig. Hier starben 119 Menschen, 200 wurden verletzt. Gleichentags fand die Polizei weitere Sprengsätze im Süden und Südosten Moskaus.
- Drei Tage später zerstörte die Explosion einer Lastwagenbombe ein neunstöckiges Wohnhaus in Wolgodonsk in der Oblast Rostow. 17 Menschen wurden dabei getötet, 69 verletzt.
- In der 200 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen Grossstadt Rjasan sah ein Bewohner eines 13-stöckigen Wohnhauses am Abend des 22. Septembers zwei Männer, die schwere Säcke aus einem Auto in einen Keller schleppten. Die herbeigerufene Polizei fand drei Säcke mit weissem Pulver, dazu einen Zeitzünder. Die umliegenden Wohnungen wurden evakuiert und der Sprengmeister der lokalen FSB-Abteilung, Juri Tkaschenko, entschärfte den Sprengsatz.
Zunächst nahm jedermann an, dass es sich um einen versuchten Terroranschlag handelte. Doch dann wurden in Rjasan zwei Verdächtige verhaftet, die sich aber als FSB-Agenten auswiesen. Kurz darauf kam aus Moskau die Anweisung, die beiden freizulassen. Am nächsten Morgen erklärte dann FSB-Chef Nikolai Patruschew, es habe sich um eine Übung gehandelt; die Bombe sei eine Attrappe gewesen, die nur Zucker enthalten habe. Dem widersprachen Tkaschenko und die lokale FSB-Abteilung in Rjasan entschieden.
Die wichtigsten Indizien
Selbst in der russischen Bevölkerung bestanden Zweifel an der tschetschenischen Urheberschaft der Anschläge. Nach dem Bombenfund in Rjasan kursierte der Spitzname «Herr Hexogen» – nach dem verwendeten Explosivstoff – für Putin, der bis August 1999 den FSB geleitet hatte. Auch westliche Fachleute gingen davon aus, der FSB sei zumindest in einige der Anschläge verwickelt gewesen.
Dubios war etwa, dass der FSB ein Phantombild eines Mannes, der einen Keller in einem der zerbombten Häuser angemietet hatte, verschwinden liess, nachdem der ehemalige FSB-Agent und spätere Privatermittler Michail Trepaschkin in dem Mann den FSB-Agenten Wladimir Romanowitsch erkannt hatte. Das Phantombild wurde stillschweigend durch ein anderes ersetzt, das Achemez Gotschijajew zeigte. Dieser tauchte unter und wurde dann von der offiziellen russischen Untersuchung als Organisator der Anschläge bezeichnet.
Am meisten Ungereimtheiten fanden sich jedoch bei der FSB-Übung – oder war es doch ein verhinderter Anschlag? – in Rjasan. Der weisse Schiguli mit verdecktem Moskauer Kennzeichen, in dem die zwei Männer die ominösen Säcke zum Wohnhaus transportiert hatten, war gestohlen, wie sich gezeigt hatte. Warum musste der FSB den Wagen für eine Übung stehlen?
Dann hatte Sprengmeister Tkaschenko mit einem Gasanalysegerät die Dämpfe aus den Säcken im Keller untersucht und den Sprengstoff Hexogen festgestellt. Der FSB erklärte, das Gerät sei defekt gewesen. Auch der Polizist, der als erster am Tatort eintraf, erklärte, es habe sich nicht um eine Übung gehandelt und der Stoff in den Säcken sei keineswegs Zucker gewesen.
Seltsam auch, dass FSB-Chef Patruschew erst anderthalb Tage nach der Entdeckung der Säcke und dem Beginn der Fahndung erklärte, es habe sich um eine Übung gehandelt. Seltsam zudem, dass die FSB-Abteilung von Rjasan gar nicht über die Übung informiert worden war. Oder dass ihr Kommandant, der 1999 noch nach den Terroristen gefahndet hatte, drei Jahre später die Übungs-These vertrat.
Auch Anwohner, die noch sechs Monate nach dem Vorfall vor Fernsehkameras die Darstellung des FSB verhöhnt hatten, weigerten sich später entweder, mit jemandem darüber zu sprechen, oder gaben dann zu, sie hätten sich geirrt. Und Sprengmeister Tkaschenko schwieg plötzlich zur Angelegenheit und verschwand von der Bildfläche. Es passt ins Bild, dass der bekannte Duma-Abgeordnete und Menschenrechts-Aktivist Sergej Kowaljow mit dem Versuch scheiterte, den FSB gerichtlich zur Herausgabe der Akten zu der «Übung» zu zwingen.
Auffällig ist überdies, dass die Serie der Anschläge nach dem Vorfall in Rjasan plötzlich endete. Wären tschetschenische Terroristen für die Attacken verantwortlich gewesen, hätten sie wohl kaum nach diesen – für den FSB nicht gerade schmeichelhaften – Ereignissen einfach damit aufgehört.
Die Todesfälle
Eine ganze Reihe von Personen, die die These vertraten, der FSB sei in die Anschläge verwickelt gewesen, kamen in den folgenden Jahren ums Leben:
- Sergei Juschenkow: Der liberale Duma-Abgeordnete wurde am 17. April 2003 in Moskau erschossen. Er war Mitglied im Geheimdienstausschuss der Staatsduma und Vize-Chef der 2002 vom Abgeordneten Sergei Kowaljow initiierten öffentlichen Kommission, die die Hintergründe der Anschläge untersuchen sollte. Er hatte Trepaschkin als Berater hinzugezogen. 2002 veröffentlichte er einen Film, in dem er dem FSB eine Verwicklung in die Anschläge vorwarf.
- Juri Schtschekotschichin: Der Duma-Abgeordnete der Reformpartei Jabloko und Kritiker des Tschetschenienkriegs war Mitglied des Ausschusses für Staatssicherheit und ebenfalls führendes Mitglied der Untersuchungskommission. Der Journalist bei der «Nowaja Gaseta» starb im Juli 2003 an einer mysteriösen Vergiftung, nachdem er sich für Ermittlungen nach Rjasan begeben hatte. Offiziell lautete die Todesursache auf eine heftige allergische Reaktion, das sogenannte Lyell-Syndrom. Die Behörden lehnten die Autopsie seiner Leiche ab, seine Krankenakte wurde eingezogen und als geheim eingestuft. Doch die Analyse einer ins Ausland geschmuggelten Hautprobe ergab eine Vergiftung mit Thallium. Der Tod des zweiten Kommissionsmitglieds nach Juschenkow beendete faktisch die Untersuchung.
- Alexander Litwinenko: Der ehemalige FSB-Agent führte aus seinem Londoner Exil eine hartnäckige Medienkampagne gegen das Putin-Regime. In seinem Buch «Russland in die Luft jagen. Der Terror aus dem Innern» präsentierte er Indizien für die These, der FSB habe die Anschläge auf die Wohnhäuser inszeniert. Am 23. November 2006 starb er in London, dreieinhalb Wochen, nachdem ihm die hoch radioaktive Substanz Polonium 210 verabreicht worden war.
- Boris Beresowski: Der Oligarch, der seit 2000 im Exil lebte, starb im März 2013, nachdem er mehrere erfolglose Mordanschläge überlebt hatte. 2002 hatte er den Dokumentarfilm «Der FSB sprengt Russland in die Luft. Ein Angriff auf Russland?» mitfinanziert, der den FSB beschuldigt, die Anschläge in Moskau und Wolgodonsk organisiert zu haben.
- Wladimir Romanowitsch: Der FSB-Agent, dessen Phantombild Trepaschkin erkannt hatte, starb 2000 auf Zypern. Er kam bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben.
Die Folgen
Die Anschläge auf die Wohnhäuser versetzten die Moskauer Bevölkerung in Angst, manche Bewohner organisierten Nachbarschaftswachen, Vergeltungsstimmung machte sich breit. Die offiziellen russischen Stellen machten schon nach der Explosion in Buinaksk Separatisten aus Tschetschenien für den Anschlag verantwortlich, die bereits Anfang August in Dagestan eingefallen und dort in blutige Kämpfe verwickelt waren. Nach jeder weiteren Terrorattacke wurde der Ton schärfer; die russische Luftwaffe begann, Angriffe auf Stellungen der tschetschenischen Rebellen und weitere Ziele in Tschetschenien zu fliegen. Am 1. Oktober marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein – der Zweite Tschetschenienkrieg hatte begonnen.
Dieser Krieg verlief erfolgreicher als der erste; die russische Armee konnte dieses Mal die tschetschenischen Rebellen zurückdrängen. Im Februar 2000 stürmten russische Truppen die Hauptstadt Grosny, und schliesslich wurde Tschetschenien wieder in die Russische Föderation eingegliedert. In Grosny wurde Achmat Kadyrow als Präsident installiert, der Vater des aktuellen Machthabers Ramsan Kadyrow.
Dem bisher noch wenig profilierten Premierminister Wladimir Putin gelang es, die Vergeltungsstimmung zu nutzen und sich als kompromissloser Anführer darzustellen, der Russland aus der Krise führt und zu neuer Stärke verhilft. «Wir werden die Terroristen überall verfolgen», sagte er kurz nach dem Beginn des Krieges. «Das heisst auch, dass wir sie im Scheisshaus abmurksen.»
Am Silvesterabend 1999 trat Präsident Jelzin überraschend mit sofortiger Wirkung zurück und ernannte Putin zum kommissarischen Staatsoberhaupt, der bis zur Wahl des Nachfolgers die Amtsgeschäfte übernahm. Die Neuwahlen, die ursprünglich für den Sommer angesetzt waren, fanden bereits im März statt, was Putins Konkurrenten nur wenig Zeit zur Vorbereitung liess. Hatte Putin im August 1999 in einer Umfrage zur Präsidentschaftswahl noch weniger als 2 Prozent der Stimmen erhalten, konnte er bei der Wahl im März 2000, als er wegen des Krieges auf einer Welle der Popularität ritt, 53 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Damit war Putin an die Schalthebel der Macht gelangt – er hat sie bis heute nie aus der Hand gegeben.
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