Sag das doch deinen Freunden!
Am Montag geht es endlich los. Im Bundesstaat Iowa beginnt mit der
ersten Vorwahl die Kandidatenkür für die US-Präsidentschaft. Nach
einem monatelangen heftigen Schlagabtausch vorab unter den Kandidaten
der republikanischen Partei wird es zu einer ersten Zäsur kommen:
Wer im mittleren Westen unter ferner liefen abschneidet, kann seine Ambitionen
begraben.
Der Kampf um das
Weisse Haus war stets ein faszinierendes Spektakel. Seit einiger Zeit
aber hat er fragwürdige Züge angenommen. Das betrifft nicht nur die
beinahe endlose Dauer, zu der auch die Medien ihren Beitrag leisten.
Seit der Oberste Gerichtshof 2010 fast alle Barrieren bei der
Wahlkampffinanzierung niedergerissen hat, fliessen gigantische Summen
in die Kampagnen.
Vizepräsident Joe
Biden geht davon aus, dass die Präsidentschaftswahl 2016 mehr als
vier Milliarden Dollar verschlingen wird. Er hat unter anderem aus
diesem Grund auf eine Kandidatur verzichtet. Für Kritiker bewegen
sich die USA zunehmend hin zu einer
Plutokratie, in der Milliardäre wie die erzkonservativen Koch-Brüder
bei den Republikanern oder der Finanzinvestor George Soros bei den
Demokraten darüber entscheiden, wer nominiert wird.
Der Einfluss von «Big Money» auf die US-Politik stimmt nachdenklich. Auch sonst
liegt manches im Argen im einstigen «Land der unbegrenzten
Möglichkeiten». Für die Republikaner befindet sich Amerika
ohnehin auf dem direkten Weg in die Apokalypse. Barack Obama
hinterlässt aus ihrer Sicht nach seinen bald acht Jahren als
Präsident ein nach innen und aussen geschwächtes Land. Der
Wahlkampfslogan von Donald Trump lautet nicht umsonst «Make America
Great Again».
Der 69-jährige
Immobilientycoon aus New York will «Amerika wieder gross machen» und hält sich damit hartnäckig an der Spitze des republikanischen
Bewerberfelds. Als er im letzten Sommer seine Kandidatur bekannt gab,
galt das Grossmaul mit der bizarren Frisur als Witzfigur, die bald
verschwinden wird. Nun erachten es manche Beobachter für möglich,
dass er sich die Nomination als Präsidentschaftskandidat sichern
wird, zum Schrecken des Partei-Establishments.
Mit seinen Tiraden gegen Mexikaner und Muslime trifft Trump den Nerv eines weissen Amerika, das um seine vermeintlich gottgegebene
Vormachtstellung fürchtet. In wenigen Jahrzehnten werden die
Abkömmlinge europäischer Einwanderer eine Minderheit unter vielen
sein, während die Zahl der Latinos zunimmt. Das erzeugt
Ängste, wie eine CNN-Recherche unter Trump-Fans zeigt. «Niemand
sorgt mehr für die Weissen», heisst es etwa. Andere glauben, die
Weissen würden diskriminiert – eine wahnwitzige Umkehrung der
historischen Fakten.
Es gibt auch
objektive Belege dafür, dass in den USA manches nicht rund läuft.
Der wirtschaftliche Aufschwung findet für viele Amerikaner nur auf
dem Papier statt. Sie verdienen nicht mehr oder sogar weniger als vor
der Finanzkrise 2008, die viele gut bezahlte Jobs vernichtet hat.
Hinzu kommt die wieder erstarkte Bedrohung durch den islamistischen
Terror, verkörpert durch den «IS». Eine Mehrheit der Amerikaner
glaubt, das Land sei auf dem falschen Dampfer.
Dabei zeigt gerade
der demographische Wandel, dass die USA ein sehr dynamisches Land
sind, das sich immer wieder neu erfindet. In den Obama-Jahren sind
die Amerikaner, die sich einst für den unbestrittenen Nabel der Welt
hielten, offener geworden. Bestes Beispiel ist die Akzeptanz der
Homo-Ehe. Vor rund zehn Jahren war eine klare Mehrheit der Amerikaner
in Umfragen dagegen, heute ist sie dafür. Das Oberste Gericht hat
sie 2015 offiziell für verfassungskonform erklärt.
Und wo befindet sich
das kreative Epizentrum der Weltwirtschaft? Sicher nicht im
vermeintlichen Wunderland China, sondern im Silicon Valley in
Kalifornien. Dort wird die digitale Zukunft entworfen. Die virtuelle
Welt wird von amerikanischen Firmen und Risikokapital dominiert. Man muss das nicht gut
finden, doch es zeigt eindrücklich, welche kreativen Energien dieses
Land freizusetzen vermag. Für kluge Köpfe aus aller Welt bleiben
die USA die Destination ihrer Träume.
Es ist eine
Realität, die notorische Amerika-Hasser gerne ignorieren oder
bewusst ausblenden, auch bei uns. Dabei könnte sich die Schweiz
einiges von der amerikanischen Dynamik abschauen. Das Verhältnis der
beiden «Schwesternrepubliken» hat sich abgekühlt,
seit die USA uns wiederholt in den Schwitzkasten genommen haben: In
der Kontroverse um die nachrichtenlosen Vermögen, beim Bankgeheimnis
oder zuletzt im Fifa-Skandal.
Im Gegensatz zu den
USA aber stagniert die Schweiz gesellschaftspolitisch seit Jahren.
Grosse Würfe wie die Gesundheitsreform Obamacare sind bei uns kaum noch
realisierbar. Dafür stossen Initiativen mit repressiver
Stossrichtung auf Zustimmung. Der Zeitgeist setzt auf Abschottung,
nicht auf Öffnung.
Dabei gab es eine
Zeit, in der herrschte in der Schweiz so etwas wie Aufbruchstimmung.
Es waren die oft gescholtenen 1990er Jahre. Erst kürzlich
publizierte der «Tages-Anzeiger» eine «Ehrenrettung» dieses
Jahrzehnts. Die Schweiz erlebte damals eine hartnäckige
Wirtschaftsflaute mit relativ hoher Arbeitslosigkeit, doch das Ende
des Kalten Krieges führte auch dazu, dass gesellschaftliche
Verkrustungen aufbrachen und bahnbrechende Reformen möglich waren.
In den Neunzigern
sagte das Volk Ja zur Alpeninitiative und zweimal Ja zum «Jahrhundertbauwerk» Neat. Das Gesetz zur Gleichstellung von Mann
und Frau wurde beschlossen und die veraltete Warenumsatzsteuer (WUST)
durch die Mehrwertsteuer ersetzt. Damals unterstützte das Volk
letztmals Reformen bei der Altersversorgung (mit Rentenalter 64
für die Frauen) und in der Gesundheitspolitik (mit
Versicherungsobligatorium und Prämienverbilligungen).
Das Nein zum EWR
konnte mit den bilateralen Verträgen zumindest teilweise kompensiert
werden. In der Drogenpolitik setzte die Schweiz mit ihrem
4-Säulen-Modell, das unter anderem die kontrollierte Heroinabgabe
beinhaltet, sogar weltweit Massstäbe. Es brauchte dafür die
traumatische Erfahrung mit den offenen Drogenszenen auf dem
Platzspitz und am Letten in Zürich, aber die Schweiz bewies, dass
sie zu unkonventionellen Lösungen fähig war.
Der nächste
Schritt, die Freigabe des Cannabis-Konsums, schien Ende der Neunziger
nur noch eine Frage der Zeit zu sein. «Jetzt kiffen!» titelte das längst verblichene Nachrichtenmagazin «Facts». Bald 20
Jahre danach bewegen sich die Kiffer noch immer in der Illegalität, auch wenn die Strafe zu einer Ordnungsbusse abgemildert wurde.
Überhaupt hat sich wenig bewegt. 2005 stimmte das Volk der
eingetragenen Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare zu, doch
nicht nur die USA haben uns bei diesem Thema überholt. Die stark
katholisch geprägten Iren sagten letztes Jahr klar Ja zur Homo-Ehe.
Bei uns existiert im
Parlament ein Vorstoss für eine «Ehe für alle». Ob es ihm
besser ergehen wird als den Bestrebungen für eine Hanflegalisierung,
wird sich zeigen. Zuletzt gab es auch wieder Anläufe zu grösseren
Reformprojekten. Die Energiewende und die Reform der Altersversorgung
hatten im Parlament einen guten Start. Mit der neuen rechtslastigen
Mehrheit im Nationalrat aber ist ungewiss, wie es weitergeht. Bei der
Energiestrategie droht bereits die Verwässerung.
Im Umweltschutz hat
die Schweiz ihre einstige Vorreiterrolle längst eingebüsst. Selbst
als Wirtschaftsstandort ist sie nicht mehr über alle Zweifel
erhaben. Unsere Hochschulen gehören zur Weltspitze, allen voran die
beiden ETHs. Sie bringen viele Startups hervor. Nach der
Gründungsphase aber ziehen diese häufig weiter, weil sie
hierzulande nicht die passenden Rahmenbedingungen vorfinden.
Bevorzugte Destination sind – wen wundert's – die USA.
Es seit nicht
verschwiegen, dass in den Neunzigern auch der unaufhaltsame Aufstieg
der Blocher-SVP begann. Dennoch neigt man aus der Warte des
weltoffenen Schweizers angesichts des heutigen Stillstands zu einem
nostalgischen Blick zurück. Selbst die seichte Spassgesellschaft,
über die man sich so schön mokieren konnte, erscheint in einem
milderen Licht.
Das gilt auch und
erst recht für die USA. Sie mögen längst nicht mehr das Land der
unbegrenzten Möglichkeiten sein. Und sie sind in allem gross, auch
in ihren Fehlern. Doch wie kein anderes Land sind sie fähig,
diese Fehler zu korrigieren. Dafür muss man sie bewundern, trotz
Trump, NSA oder Guantanamo. Man darf davon ausgehen, dass sich bei
der Präsidentschaftswahl spätestens am 8. November der Pragmatismus
gegenüber der Ideologie durchsetzen wird.