Boah, diese Szene könnte man heute so auch nicht drehen! Oh ja, dieser Gedanke geht einem beim Betrachten des allerersten 007-Streifens mehrmals durch den Kopf. Da gibt's Sexismus und Rassismus noch und nöcher, unlustige Flachwitze und etliche filmische Aspekte, die das Oeuvre mitunter doch reichlich veraltet wirken lassen.
Die historische Bedeutung von «Dr. No» indes ist immens, denn dieser damals bescheiden budgetierte britische Krimi, der keinen grossen Hollywoodstar als Zugpferd vorweisen konnte, legte am 5. Oktober 1962 den Grundstein einer Filmfranchise, die bis heute andauert.
Und weshalb nicht «Casino Royale», etwa? «Dr. No» ist weder der erste James-Bond-Roman, noch war es Autor Ian Flemings erster Versuch, Bond auf die Leinwand zu bringen. Bereits 1954 wurde Flemings Roman «Casino Royale» als einstündige Folge der TV-Krimi-Reihe «Climax!» auf dem US-Sender CBS umgesetzt. Der Amerikaner Barry Nelson spielte «Jimmy Bond», die Gewaltszenen der Romanvorlage wurden erheblich gezähmt, die Sexszenen komplett gestrichen. Wenige Jahre später schrieb Ian Fleming einen Entwurf für eine TV-Adaption von «Dr. No» im Auftrag der jamaikanischen Tourismusbehörde. Das Projekt versandete.
Auftritt des kanadischen Filmproduzenten Harry Saltzman – ein ungewöhnlicher Kandidat, hatte er sich doch bisher in der Verfilmung sozialkritischer Dramen hervorgetan. Für 50'000 Dollar sicherte er sich die Filmrechte an allen James-Bond-Romanen ausser «Casino Royale» und «Thunderball».
Doch Saltzman bekundete Mühe, die erworbenen Filmrechte an amerikanische Filmstudios zu verhökern: Zu britisch, zu sexuell, so die Meinung Hollywoods. Schliesslich gründete er zusammen mit dem amerikanischen Produzenten Albert ‹Cubby› Broccoli eine eigene Filmproduktionsfirma, EON Productions, und ging auf Investorensuche. Mit der Zusicherung eines Budgets von einer Million Dollar (damals schon ein eher knapper Betrag) ging es ans Casting.
Diverse gestandene Filmstars standen auf der Wunschliste der Produzenten, um die Rolle des James Bond zu besetzen – unter anderem Cary Grant und David Niven –, doch diese lehnten ab oder waren sonst wie unabkömmlich. Schliesslich entschied man sich für den 31-jährigen Schotten Sean Connery, ein ausserhalb Grossbritanniens gänzlich unbekannter Schauspieler. Auch bei der Besetzung der weiblichen Hauptrolle der Honey Ryder kam eine bis anhin eher unbekannte Schauspielerin zum Zug: Die 25-jährige Ursula Andress aus Ostermundigen BE, die bestenfalls einem Klatschpresse-Publikum wegen ihrer Beziehung zu James Dean bekannt war.
Knappes Budget, unbekannte Schauspieler: In vieler Hinsicht war die Investition in «Dr. No» ein Gamble. Ein Wagnis, aber, das sich alsbald auszahlte. Während die Kritiken durchzogen bis negativ ausfielen («a great big hairy marshmallow» – Time Magazine), erwies sich «Dr. No» bereits in der Premierenwoche im Oktober 1962 als Kassenschlager in Grossbritannien und in Europa. In den USA, wo er ein halbes Jahr später im Mai 1963 in die Kinos kam, war er ebenfalls erfolgreich. Am Ende spielte «Dr. No» mehr als sechs Millionen Dollar ein – das sechsfache seiner Produktionskosten. Wichtiger: Dieser Erfolg rechtfertigte die Produktion der Folgefilme. Folgefilme – 24 an der Zahl – die heute noch, 60 Jahre nach «Dr. No», immer noch gedreht werden.
So viel zur Historie. In dieser Hinsicht ein bedeutender Film, keine Frage. Spannend ist aber, ob «Dr. No» 60 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch verhebt (um diesen doch so zutreffenden Helvetismus zu bemühen). Spoiler: Teils-teils.
Bitte sehr – der Elefant im Raum:
Gleich zwei Europäer stellen asiatische Personen dar. Zena Marshall, britische Schauspielerin irisch-englisch-französischer Abstammung, spielt Miss Taro, die sexy Doppelagentin, die mittels Make-up und Kleiderstil dem Zuschauer als Chinesin verkauft wird. Oberschurke Dr. No aus Beijing, der laut Eigenangaben «von einem deutschen Missionar und einer chinesischen Mutter» abstammt, wird vom Frankokanadier Joseph Wiseman dargestellt.
Ja, Yellowfacing (die Besetzung Südost- und Ostasiatischer Filmrollen mit Europäern) war 1962 gang und gäbe. Gerechtfertigt ist es deswegen trotzdem nicht.
Kommen wir zur Filmfigur Quarrel, dargestellt vom Afroamerikaner John Kitzmiller: Über weite Strecken hat seine Filmfigur ein fast ebenbürtiges Arbeitskollegenverhältnis zu Bond, ... würde er bloss nicht an das reichlich alberne Gerücht von einem «Drachen» auf der Insel Crab Key glauben – was CIA-Mann Felix Leiter als «Aberglaube der Eingeborenen» abtut. Und in der Tat sind alle jene dunkelhäutigen «Eingeborenen» des Films letztendlich unterwürfige Handlanger, die bestenfalls – wie Quarrel – lokalspezifisches Fachwissen demonstrieren dürfen, nicht aber intellektuelle Ebenbürtigkeit.
Gewiss, dieser inhärente Rassismus des Films ist keine ideologische Absicht. Er widerspiegelt schlicht die gesellschaftliche Realität seiner Ära – was wiederum natürlich nicht bedeutet, dass es in Ordnung geht, auch 1962 nicht.
Und natürlich: Ebenso museal ist der omnipräsente Sexismus. Die permanente Objektivierung von Frauen gehört zur Bondfranchise wie die geschüttelten Martinis und der Aston Martin. Ja, in der Funktion des plakativen Sexsymbols wird im Verlauf der 007-Filmfranchise etlichen weiblichen Figuren zuweilen eine Stärke zugestanden, die zaghafte feministische Züge trägt: Motorrad fahrende, Karate kämpfende Bondgirls wird es einige geben. In «Dr. No» ist dieser Aspekt lediglich auf das gefährlich fette Messer beschränkt, das Honey Ryder auf dem Gurt ihres Amazonen-Bikinis trägt.
«Vergesst nicht, dass er [Bond] im Grunde genommen ein Frauenhasser ist», erinnerte uns Daniel Craig höchstpersönlich noch anno 2019. Diese Tatsache ist aber nicht das eigentliche Problem. Phoebe Waller-Bridge, Drehbuchautorin des jüngsten Bondfilms «No Time to Die», erklärte: «Das Wichtigste ist, dass der Film die Frauenfiguren richtig behandelt. Bond muss das nicht. Er muss seinem Charakter treu bleiben.» In dieser Hinsicht ist «Dr. No» ein Produkt seiner Ära. Wenn drei Männer die Verdächtige Annabel Chung gegen ihren Willen physisch festhalten und ihr Schmerzen zufügen und das Drehbuch dies unkommentiert geschehen lässt, dann sieht man dem Streifen sein Alter an.
Es bedurfte noch zwei weiterer Filme, um die Struktur eines Bondfilms mit all seinen Traditionen endgültig zu zementieren. 1965 wurde mit «Goldfinger» das fertige Schema geschaffen, an dem Bondfilme bis heute anknüpfen. «Dr. No» ist noch ein Prototyp; ein hübscher kleiner Thriller mit einem einigermassen stylishen Helden, der seinen Job ohne die Hilfe von ausgeklügelten Militärgerätschaften oder aufsehenerregenden Gadgets erledigt.
Doch in Sachen Ikonografie rührt «Dr. No» bereits mit der grösstmöglichen Kelle an:
«Bond, James Bond»: Mit dieser Einführungsszene wurde eine Ikone geschaffen, die bis heute mehr oder weniger unverändert weiterlebt. Auch das 007-Logo, die Pistolenlaufsequenz, der Vorspann und die Eröffnungssequenz mit der grossartigen James-Bond-Titelmelodie: Das alles ist bei «Dr. No» bereits dabei.
Joseph Wisemans Yellowface ist umso tragischer, wie seine Darstellung des urtypischen Superschurken grossartig ist – eine weitere zeitlose Komponente des noch sich am im Entstehen befindenden Genres. Ebenfalls ein Novum, das sich alsbald zu einem klassischen Element entwickelt: die Widerspiegelung der Megalomanie in Ken Adams unglaublichem Set Design. Noch nie wurde modernistische Innenarchitektur derart filmisch umgesetzt wie erstmals in «Dr. No».
«Dr. No» steht mit einem Fuss in der Vergangenheit und mit dem anderen in der Moderne; veraltet und zeitlos zugleich. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 1961-1962 war Jamaika eine britische Kolonie, struktureller Rassismus und Sexismus war kodierter Teil des Gesellschaftsalltags. Andererseits ist Sean Connery als James Bond, wie Albert Finney und Peter O'Toole, deren Karrieren etwa zur gleichen Zeit begannen, auch ein Vorbote eines grossen gesellschaftlichen Wandels in Bezug auf Klasse, Mode und Verhalten.
Hier könnte man die grossen «Was wäre, wenn ...?»-Fragen stellen: Was wäre, wenn Hollywood aufgesprungen wäre und ein fetteres Budget gutgeheissen hätte? Und man daher David Niven hätte casten können? Oder man James Bond zu einem Amerikaner umgeschrieben hätte? Man aufwändigere Szenen aus dem Roman hätte umsetzen können, wie jene, in der Honey Ryder von Krabben gefoltert wird oder Bond unter Wasser mit einem Riesenkalmar kämpft? Die Antwort auf sämtliche Fragen lautet wohl: Dann wäre James Bond wohl ein einmaliges Genrestück seiner Ära geblieben, aus dem kaum die Franchise entstanden wäre, wie wir sie heute kennen.
Wegen seiner zeitlosen Ikonografie und der historischen Bedeutung bleibt «Dr. No» auch 60 Jahre nach seiner Veröffentlichung ein sehenswerter Film. Ebenso wirkt er wegen der veralteten Elemente zuweilen museal, was zuweilen nicht ohne Charme sein kann: Autoverfolgungsjagden oder Kampfszenen wirken in ihrer Sensationslosigkeit zuweilen fast glaubhafter als manche crazy Actionszene aus aktueller Filmproduktion. Handkehrum bedeutet es, dass man einem leicht verstaubten Film viel mehr verzeiht. Im Jahr 2022 nimmt das Publikum den Rassismus und Sexismus als historische Aspekte von 1962 wahr und nicht als aktuelle ideologische Aussage. Erst recht, wenn es sich beim Film um den ersten einer ganzen Reihe von spassigen Agentenstreifen handelt, mit der die halbe Welt positive Kindheitserinnerungen verbindet. Wer freute sich als Kind nicht, wenn am Stephanstag die Eltern einem erlaubten, den Bond zu schauen (obwohl man vielleicht jünger als die Altersbeschränkung war)? Und damals, als Sieben- oder Achtjährige, machten wir uns keine Gedanken über Kolonialismus oder strukturellen Sexismus. Heute, als Erwachsene, aber darf man den 60-jährigen «Dr. No» reinziehen und – obwohl man den Film gern schaut – konstatieren: Boah, diese Szene könnte man heute so auch nicht drehen!