Kaum hat man die ersten Silben ausgespuckt, ertönt auch schon das absehbare Kichern des Gegenübers. «Schwiizerdütsch», sagt es lachend. «So niedlich klingt das. Giipfeli, Rüebli», mit einem sinnlosen Aneinanderreihen von Dialekt-Ausdrücken geht das Gespräch heiter weiter. Und dann kommt es auch schon aus der Kehle geschossen: «Chuchichäschtli».
Spätestens jetzt lacht der Deutsche nicht mehr alleine. Denn das, was der Schweizer jetzt von seinem Gegenüber wahrnimmt – nämlich eine Art «Guggigäschtli» –, findet er nicht weniger «häärzig». Auch wenn das mitweilen nervt, wenigstens ist der meist nicht zu versteckende Schweizer Akzent bei den nördlichen Nachbarn ein dankbarer Gesprächseröffner.
Doch wehe, die Deutschen fahren in die Schweiz, reisen an zum Studieren oder Arbeiten. Dann finden sie es gar nicht mehr so niedlich, nein, viel eher sind sie komplett überfordert. Sie verstehen dann nur noch «chchchchchch» und wundern sich über Wörter wie «poschte», rätseln über «abekeie» oder können mit «Badi» so rein gar nichts anfangen.
So erging es auch Michael Jakob aus München. Der 22-Jährige zog für ein Master-Studium an der ETH nach Zürich. Als Süddeutscher – könnte man jetzt noch sagen – hat er es sprachtechnisch sicherlich einfacher, in die «Schwiiz» zu immigrieren. Doch als der Informatiker im September 2015 anreiste, half ihm sein schöner bayrischer Dialekt herzlich wenig. «Nach einem Monat in der Schweiz war ich komplett überfordert. Ich hätte nie erwartet, dass es so anders ist», erzählt er.
Nach vier Monaten stellte er sich die Frage, die sich laut ihm alle Deutschen stellen, die vorhaben, länger in der Schweiz zu leben: Soll ich es lernen oder reicht verstehen? Er entschied sich für Ersteres. Irgendwie lieb von Michael Jakob, dass er sagt: «Ich finde Schweizerdeutsch eine schöne Sprache, ich will es am Leben erhalten.» Er glaubt, auf diese Weise integriere man sich besser. Es sei auch ein Zeichen des Respekts.
So machte er sich auf die Suche nach Hilfsmitteln. Tagelang durchstöberte er die Bibliothek, nächtelang das Netz. Nicht nur für sich, sondern für alle interessierten Landsleute. «Ich wollte es anderen Zuziehenden in Zukunft einfacher machen, Schweizerdeutsch zu lernen», sagt der Süddeutsche. Doch der Student fand kaum etwas. Ein schlecht aufbereitetes Online-Wörterbuch und teure Offline-Kurse befriedigten ihn nicht, also gründete er im Frühling 2016 die Plattform «schweizerdeutsch-lernen.ch».
Neben einem kostenlosen Schweizerdeutsch-Hochdeutsch-Wörterbuch, das über 30'000 Einträge enthält und gemäss dem 22-Jährigen das umfangreichste im Netz ist, erhält der Nutzer für 97 Franken Zugang zu zahlreichen Videos, bei denen er von Zürcher, St.Galler, Berner und Basler Tutoren unterrichtet wird. Die Lehrer hat Michael Jakob in seinem Freundeskreis gefunden. Und auf Youtube: Mädels, die dort Beauty-Tutorials gemacht haben und nun für ihn Sprachvideos aufnehmen.
So werden die Deutschen etwa mit zum Einkaufen in die Migros genommen – das Wort «poschte» wird da natürlich gleich eingeführt. Wöchentlich gibt es neue Artikel zum Thema Mundart und Kultur in der Schweiz.
Was ist denn das Schwierigste für Deutsche? Die «li»-Endung kann es ja nicht sein. Die hängt man auf gut Glück einfach überall an. Die Aussprache sei das Schwierigste, überall dieses «ch». Deutsche würden sich schämen und deswegen nicht trauen. Dabei geht es eben ein wenig, bis man lernt, es heisst «Grüezi» und nicht «Grüzi» und «Zürcher» statt «Züricher».
Mittlerweile melden sich auch Österreicher an, seit Dezember gibt es die Seite «www.learn-swiss-german.ch» mit einem Englisch-Schweizerdeutsch-Wörterbuch.
Jakobs Plattform läuft gut. 300 Abonnenten haben das Programm bereits bezogen. Er zahlt sich und seinem Partner einen Lohn von 2000 Franken aus. Die Website besuchen monatlich etwa 2000 Leute, auf Facebook hat seine Sprachhilfe fast 12'000 Likes. Nutzer schwärmen: «Unglaublich! Es gibt echt zu jeder Alltagssituation ein Video, man kann alles sofort umsetzen»; «Ich kann schon eine Cola auf Schweizerdeutsch bestellen»; «Ich empfehle jedem diese Seite, der schnell und einfach Schweizerdeutsch lernen will».
Durch Mundpropaganda, Facebook und Google stossen die Deutschen auf Michael Jakobs Lernhilfe. Gibt man bei Google das Keyword «Schweizerdeutsch lernen» ein, kommt die Seite auf Platz 1. Darüber wäre auch er froh gewesen, als er damals noch in Deutschland lebte und eingab: «Wie spricht man Schweizerdeutsch?»
Knapp 314'000 Deutsche leben in der Schweiz. Sie sind nach den Italienern die grösste ausländische Bevölkerungsgruppe. Nach der Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2004 zogen immer mehr Deutsche in die Schweiz. 2008 erreichte die Einwanderungswelle ihre Spitze. Seit ein paar Jahren wird der Zustrom schwächer, und die Rückkehrer geraten vermehrt in den Fokus. Dass Deutsche wieder wegziehen, weil sie sich hier nicht willkommen fühlen, ist ein viel diskutiertes Thema. «Um sich zu integrieren, ist die Sprache sehr wichtig», meint Michael Jakob. Er glaubt, dass Sprache und die dadurch fehlende Integration ein Grund sein kann, weshalb es Deutsche wieder in heimische Gefilde zieht.
Er will nicht zurück, er will weitermachen mit Schweizerdeutsch. Es gebe viel Bedarf. So kommt er gegen 20 Uhr von seinem derzeitigen Praktikum bei einer Bank nach Hause und investiert noch einmal ein paar Stunden ins «Schwiizerdütsch». Neu gibt es für die englischsprachigen Nutzer Audioaufnahmen der Dialektwörter. Im März erscheint das E-Book «Schweizerdeutsch in 30 Tagen», und gerade brachte er eine App für Android-Handys auf den Markt.
Das sei auch spannend für Touristen. Denn das Wörterbuch, das hilfreiche kurze Phrasen bereithält, ist offline nutzbar. Vorerst sind die Sätze im Bündner Dialekt verfasst. Michael Jakob will damit testen, ob Deutsche, die in der Ostschweiz leben, auch Interesse an seinen Lernhilfen haben. Bald aber werden weitere Dialekte zugefügt werden. Bis anhin finden Deutsche beim Punkt «flirten» etwa: «Möchtisch mit miar en Kaffi go trinka?» oder vielleicht noch nützlicher: «I verstohn Sie nit. Könnd Sie das bitte wiederhola?» (gin/aargauerzeitung.ch)