Das Vertragspaket mit der Europäischen Union ist für die breite Masse immer noch unter Verschluss. Der Bundesrat aber hat nach seinen beiden letzten Sitzungen nicht weniger als drei Medienkonferenzen zu diesem Thema durchgeführt. Aus den Reihen der Befürworter und Gegner wurde man als Journalist ebenfalls mit Informationen «bombardiert».
Geht man davon aus, dass es bis zur unweigerlichen Volksabstimmung noch lange dauern wird (das meistgenannte Szenario geht von 2028 aus, nach den nächsten Wahlen), wirkt der Aktionismus befremdlich. Dem Bundesrat könnte man allenfalls attestieren, dass er genug früh aus dem Passivmodus kommen und das Terrain nicht den Gegnern überlassen will.
Es wäre nachvollziehbar, denn die magistrale Zurückhaltung war einer der Gründe dafür, dass das frühere Rahmenabkommen «zerredet» und vom Bundesrat versenkt wurde. Doch seine Offensivstrategie hat eine Kehrseite, denn die Debatte wird unübersichtlich. Und das bei einer Materie, die ohnehin komplex und nicht einfach zu erfassen ist.
Hier deshalb der Versuch einer Einordnung:
Die Vertragstexte unterstehen wie erwähnt noch der Geheimhaltung. Einige ausgewählte Parlamentarier aber durften vorab Einsicht nehmen, unter dem Vorbehalt der Vertraulichkeit. Besonders schlau war dies nicht, und der «Blick» versuchte prompt, die «Heimlichtuerei» zu skandalisieren. Auch die SVP-Vertreter äusserten sich nach der Lektüre empört.
Fraktionschef Thomas Aeschi und Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher zeigten sich «schockiert», wie schlecht verhandelt worden sei. Allerdings wurde diese Meinung schon am Vortag formuliert. Dies zeigt der Entwurf einer Medienmitteilung, der einem der SVP-Mitglieder gemäss «Tagesanzeiger» offenbar aus der Tasche gefallen war.
Die SVP wusste also vorab, wie sie das Paket beurteilen würde. Das erstaunt nicht: Steht Europa drauf, sagt die SVP Nein. Der Inhalt ist egal. Am Mittwoch entschied der Bundesrat, dass neu alle Parlamentarier Zugang erhalten. Und vor den Sommerferien will er die Verträge ohnehin veröffentlichen. Letztlich handelt es sich um ein Polittheater aus der Bundesbern-Bubble.
Über die Frage, ob das EU-Vertragspaket dem obligatorischen Referendum und damit dem Ständemehr unterstellt werden soll, wird seit Monaten gestritten. Ein doppeltes Ja würde die Hürde für eine Annahme erhöhen. Das Bundesamt für Justiz (BJ) findet das Ständemehr unnötig, andere Experten halten dagegen. Nun ergriff der Bundesrat die Flucht nach vorn.
Er schliesst sich dem Gutachten seiner Juristen an und will ein Votum ohne Ständemehr, wie Aussenminister Ignazio Cassis erklärte. Die Kritik war teilweise heftig, doch längst nicht alle, die mit staatspolitischen Erwägungen oder dem nationalen Zusammenhalt argumentieren, verhalten sich ehrlich. Sie wollen mit dem «Kantonsveto» die Verträge bodigen.
Der Verein Kompass/Europa macht zusätzlich Druck mit einer Volksinitiative, die er bald einreichen will. Das aber könnte ins Auge gehen, denn SP-Nationalrätin Jacqueline Badran postulierte im «Blick» einen möglichst raschen Volksentscheid über die Kompass-Initiative. Bei einem absehbaren Nein wäre der Weg frei für eine EU-Abstimmung ohne Ständemehr.
Am Mittwoch orientierte der Bundesrat zweifach über das EU-Paket. UVEK-Chef Albert Rösti referierte über das Stromabkommen, einer von drei neuen bilateralen Verträgen, die Teil des Gesamtpakets sind. Ein Grund für diese Sonderbehandlung war nicht wirklich ersichtlich, doch die Energieversorgung ist seit dem Ukraine-Krieg ein sensibles Thema.
Die Strombranche weibelt schon lange für das Abkommen, denn es garantiert die Integration der Schweiz in den europäischen Strommarkt. Der heutige Schwebezustand ist vor allem für den Netzbetreiber Swissgrid problematisch. Zwar muss die Schweiz damit ihren Strommarkt liberalisieren, doch KMU und Privathaushalte können beim heutigen System bleiben.
Mit einem deutlich emotionaleren Thema trat Justizminister Beat Jans vor die Medien. Es geht um die Schutzklausel gegen eine übermässige Zuwanderung aus der EU. Eine solche soll die Schweiz aktivieren können, wenn gewisse Schwellenwerte überschritten werden. Dazu gehören ein massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit oder der Sozialhilfequote.
Der Mechanismus ist kompliziert, und die EU könnte Gegenmassnahmen ergreifen. Für Jans ist die Schutzklausel ein «Feuerlöscher an der Wand». Man ist froh, wenn man ihn hat, will ihn aber möglichst nicht einsetzen. Die Analogie trifft es gut, denn in der Tat dürfte dieser Feuerlöscher an der Wand verstauben und die Schutzklausel niemals aktiviert werden.
Denn die Zuwanderung via EU-Freizügigkeit ist durch den Arbeitsmarkt getrieben, wie Beat Jans selbst erklärte. Und der Bedarf wird wegen der Demografie zunehmen. Die damit verbundenen Wohnungs- und Verkehrsprobleme kann man kaum der EU anlasten. Dennoch braucht es die Schutzklausel, auch als Gegenvorschlag zur 10-Millionen-Initiative der SVP.
Die Wirtschaftsverbände hielten sich zum Vertragspaket lange zurück, was etwa Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter irritierte. Das hat sich geändert. Economiesuisse und der Industrieverband Swissmem sind für ein Ja, und am Mittwoch präsentierte Scienceindustries, der Verband von Chemie, Pharma und Life Sciences, eine Studie zu den EU-Forschungsprogrammen.
Die «Wissensnation Schweiz» sei darauf angewiesen, hiess es an einer Medienkonferenz. Derzeit ist sie zu Programmen wie Horizon Europe wieder zugelassen, allerdings unter Vorbehalt einer Annahme der Bilateralen III. Die Studie zeigt anhand von Vergleichen mit Grossbritannien und Österreich, wie wichtig eine volle Assoziierung wäre.
Obwohl es sich um einen wichtigen Wirtschaftszweig handelt, hielt sich das Interesse der Medien in Grenzen, anders als beim Auftritt der Kompass-Truppe Ende April. Dort sprach ein Unternehmer aus der Gebäudetechnik über die Vorzüge der flankierenden Massnahmen. Allerdings meinte er damit nicht den Lohnschutz, sondern die protektionistischen Elemente.
Dazu gehören die Anmeldefrist oder die Kautionspflicht für EU-Firmen, die in der Schweiz tätig sein wollen. Die Schweiz hat hier Zugeständnisse gemacht, zum Leidwesen des besagten Unternehmers und mancher Gewerbler. Für die Kompass-Gründer der global tätigen Partners Group gilt hier wohl die Devise: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Wer glaubt, mit den Bilateralen III herrsche im Verhältnis zur EU erst einmal Ruhe, hat sich getäuscht. Am Montag eröffnete eine Mehrheit der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) des Nationalrats quasi eine neue Baustelle. Mit einem Vorstoss fordert sie eine engere Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft mit der EU.
Der Bundesrat muss dazu Stellung nehmen, und beide Räte müssen ihn überweisen. Bei einem Ja müssten erneut Verhandlungen über ein bilaterales Abkommen aufgenommen werden. Angesichts der Sicherheitslage ist die Forderung verständlich. Sie zeigt aber, dass der Bilateralismus kein Endzustand, sondern ein «work in progress» ist.
Wie geht es nun weiter? Am nächsten Mittwoch werden die Chefunterhändler die Vertragstexte «paraphieren», also vorläufig absegnen. Noch vor den Sommerferien sollen sie, wie erwähnt, offengelegt und in die Vernehmlassung geschickt werden. Läuft alles nach Plan, werden Bundesrat und EU-Kommission sie Anfang 2026 definitiv unterzeichnen.
Danach beginnt der parlamentarische Prozess. Vieles ist dabei offen, nicht zuletzt die Positionierung von FDP und Mitte. Beide Parteien dürften zu einem Ja tendieren, doch es gibt gewichtige Nein-Stimmen. Hinzu kommt die Frage der Terminierung, auch mit Blick auf die Kompass- und die SVP-Initiative. Stoff für weitere konfuse Debatten ist vorhanden.
Wozu gibt es eigentlich die Bundesverfassung, wenn ihre Regelungen für den Diskurs derart irrelevant sind?
Das Stromabkommen ist auch fragwürdig. Über das Wasser in unseren Stauseen (solange es noch hat) darf sicher NIE die EU oder irgendwelche Stromkonzerne das Sagen haben.
Aus meiner Sicht ist das Gebahren der SVP, einmal mehr, extrem peinlich.