Als der Bundesrat Ende 2024 die Eckwerte des neuen Vertragspakets mit der Europäischen Union präsentierte, spuckte Pierre-Yves Maillard Gift und Galle. «Das jetzige Resultat ist inakzeptabel. Der Bundesrat hat unseren Lohnschutz geopfert!», wetterte der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) in einem «Blick»-Interview.
Am Mittwoch äusserte sich der Waadtländer SP-Ständerat gegenüber dem gleichen Medium schon wesentlich konzilianter: Endlich anerkenne der Bundesrat «die Probleme, die wir seit Jahren vorbringen, und den damit verbundenen Handlungsbedarf». Er mache «einen ersten Schritt in die richtige Richtung, der gewisse Möglichkeiten eröffnet», meinte Maillard.
Zuvor hatten Wirtschaftsminister Guy Parmelin und Staatssekretärin Helene Budliger Artieda vor den Medien verkündet, die Sozialpartner und die Kantone hätten sich beim Lohnschutz auf Massnahmen im Inland geeinigt. Es handelt sich um ein Paket aus 13 Punkten, mit denen unter anderem die berüchtigte EU-Spesenregelung kompensiert werden soll.
Noch sind die Gewerkschaften nicht vollauf zufrieden. «Wir sind noch am Anfang des Prozesses und werden erst am Ende der Parlamentsdebatte definitiv Bilanz ziehen», warnte Pierre-Yves Maillard im «Blick». Und der kleinere Dachverband Travailsuisse teilte mit, das nun vorliegende Verhandlungsergebnis sei «kein Durchbruch».
Selbst der Bundesrat anerkennt, dass es weitere Massnahmen braucht. Dabei geht es um Gesamtarbeitsverträge (GAV), die für allgemeinverbindlich erklärt werden, eine Art Herzensanliegen der Gewerkschaften. Die Arbeitgeber geben sich in diesem Punkt weiterhin zurückhaltend, doch es ist absehbar, dass auch hier ein Durchbruch erfolgen wird.
In den letzten Wochen hatte sich die nun vorliegende Einigung angedeutet. An einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung des SGB Ende Januar wurde der Bundesrat erneut heftig kritisiert, doch Entscheidungsträger bestätigten am Rand gegenüber dem «Tagesanzeiger» das Tauwetter in den Lohnschutz-Gesprächen.
«An uns soll es nicht liegen, wenn es nicht klappen sollte», sagte Daniel Lampart, Chefökonom und oberster Verhandler des Gewerkschaftsbunds. Solche Aussagen liessen aufhorchen, denn gerade Lampart hatte in der Vergangenheit beim Lohnschutz eine harte Linie vertreten. Doch ein Nein zum Vertragspaket wäre für die Gewerkschaften riskant.
Es würde im linken Lager zu einer Zerreissprobe führen, besonders in der SP. In einer SRG-Umfrage vom letzten Herbst äusserte sich die Wählerschaft der SP noch positiver zu den bilateralen Verträgen als jene der proeuropäischen GLP. Indirekt lässt sich daraus schliessen, dass der Lohnschutz für die SP-Basis nicht das Sorgenthema Nummer eins ist.
Bei einer Ablehnung des Vertragspakets müssten die Gewerkschaften zudem Seite an Seite mit den «Finanzkapitalisten» der Zuger Partners Group und der nationalkonservativen SVP kämpfen. SGB-Boss Maillard spielt diesen Aspekt in Interviews herunter, doch beim grossen Teil der linken Wählerschaft dürfte sich das Verständnis dafür in Grenzen halten.
Der wichtigste Grund für die Gewerkschaften, am Ende doch auf ein Ja einzuschwenken, ist die mit einem Scheitern des Vertragspakets verbundene Gefahr, dass der bilaterale Weg erodieren oder von der EU sogar aufgekündigt werden könnte. Damit aber könnten sich die Arbeitgeber auch nicht mehr an die flankierenden Massnahmen (Flam) gebunden fühlen.
Sie sind nicht nur wichtig für den Schutz des Lohnniveaus, sondern für die Gewerkschaften eine Einnahmequelle, durch die Lohnkontrollen bei in die Schweiz entsandten EU-Firmen. 2023 wurden mehr als 36’000 Betriebe überprüft. Das ist im internationalen Vergleich ein Spitzenwert, was die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) 2022 in einem Bericht kritisierte.
Ausländische Unternehmen und einzelne Branchen wie das Bau- und Gastgewerbe würden viel zu häufig kontrolliert, monierte die EFK. Die rund 15 Millionen Franken, die der Bund jährlich für Lohnkontrollen bezahlt, seien schlecht eingesetzt. Die Gewerkschaften wiesen dies zurück. Sie können das Geld angesichts schwindender Mitgliederzahlen gebrauchen.
Von 2010 bis 2022 sank die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder gemäss der SGB-Statistik von knapp 750’000 auf etwas mehr als 660’000. 2023 gab es erstmals wieder einen leichten Anstieg, doch der war einzig dem Beitritt zweier kleiner Arbeitnehmerorganisationen zu verdanken. Weniger Mitglieder bedeuten auch weniger Beiträge in die SGB-Kasse.
Umso mehr steigt die Bedeutung der Einnahmen aus den Lohnkontrollen, damit die Gewerkschaften ihre Kampagnen für die 13. AHV-Rente oder gegen die BVG-Reform finanzieren können. Natürlich haben auch Teile der Wirtschaft Interesse an Massnahmen zum Lohnschutz, wegen ihres protektionistischen Charakters.
Unter dem Strich aber ist klar: Bei einer Ablehnung der «Bilateralen III» gibt es für die Gewerkschaften kaum etwas zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Urs Wietlisbach, Mitgründer der Partners Group und der EU-feindlichen Bewegung Kompass Europa, hat sie als Mitstreiter abgeschrieben. «Die werden kippen», sagte er der «NZZ am Sonntag».
«Sie werden sich Vorteile im Inland aushandeln und dann ins Ja-Lager wechseln», meinte Wietlisbach. So gut wie alles deutet darauf hin, dass er damit richtig liegt.