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Analyse

Angriff auf Frühfranzösisch: Die Malaise an der Volksschule

ARCHIVBILD ZU DEN HEUTIGEN DEBATTEN UM DAS FRUEHFRANZOESISCH, AM MITTWOCH, 3. MAI 2017 - A French lesson of a middle school class at the day school Bungertwies in Zurich, Switzerland, on March 12, 201 ...
Französischunterricht an einer Primarschule in Zürich. Damit soll es bald vorbei sein.Bild: KEYSTONE
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Frühfranzösisch wird zum perfekten «Prügelknaben»

Der Zürcher Kantonsrat will den Französischunterricht in der Primarschule abschaffen. Es ist eine ziemlich hilflose Reaktion auf die zunehmende Überforderung an der Volksschule.
02.09.2025, 15:0402.09.2025, 15:56
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Französisch ist unsere zweite Landessprache. Und im Gegensatz zum dominierenden Deutsch eine Weltsprache. Der «Franz»-Unterricht aber ist in der Deutschschweiz ein Politikum, seit er im Rahmen des Harmos-Konkordats an der Primarschule eingeführt wurde. Appenzell-Innerrhoden und Uri haben Harmos und Frühfranzösisch nie umgesetzt.

Das war verschmerzbar, denn es handelt sich um zwei Kleinstkantone. Doch nun soll sich Zürich, der einwohner- und wirtschaftsstärkste Kanton der Schweiz, von Frühfranzösisch verabschieden. So hat es der Kantonsrat am Montag beschlossen. Er sagte mit 108 zu 64 Stimmen deutlich Ja zu einer Motion aus den Reihen der Bürgerlichen.

Silvia Steiner, Bildungsdirektorin und Regierungsraetin des Kantons Zuerich besucht eine Lektion der ersten Klasse am ersten Schultag in der Schule Chruezaecher in Regensdorf, aufgenommen am Montag, 1 ...
Regierungsrätin Silvia Steiner am ersten Schultag vor zwei Wochen in Regensdorf. Sie wehrte sich vergeblich gegen den Vorstoss.Bild: keystone

Eingebracht wurde sie von einer Mitte-Kantonsrätin, die sich damit gegen ihre eigene Bildungsdirektorin Silvia Steiner stellte. Allein dieser Vorgang ist ungewöhnlich, denn in Zürich ist die Mitte-Partei im Kantonsparlament ein kleiner Fisch. Steiner wehrte sich mit Händen und Füssen gegen den Vorstoss und bezeichnete ihn als «Spiel mit dem Feuer».

Baume-Schneider ist «unberuhigt»

«Französisch ist nicht einfach eine Fremdsprache, sondern eine Landessprache», sagte sie. Als grösster Deutschschweizer Kanton stehe Zürich «unter erhöhter Beobachtung.» Die Regierungsrätin verwies auf die grossen Investitionen ins Frühfranzösisch. Eine Verschiebung in die Oberstufe würde einen Rattenschwanz an Problemen verursachen.

In Bundesbern reagierte man nicht erfreut auf das Signal aus Zürich. Die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP) bezeichnete es im SRF charmant-holprig als «unberuhigend». In 12 der 19 Deutschschweizer Kantone gibt es entsprechende Bestrebungen, deshalb erwägt sie laut Tamedia, die Kantone mit einer Ergänzung des Sprachengesetzes zu «übersteuern».

Auf Englisch ausweichen

Es fällt leicht, die Reaktion der jurassischen Bundesrätin als Ausdruck einer Westschweizer Überempfindlichkeit abzutun. Unberechtigt aber ist sie nicht, denn bei Beschwörungen des nationalen Zusammenhalts etwa am 1. August wird verdrängt, dass das Zusammenleben der Sprachgruppen in der Schweiz mehr ein Neben- als ein Miteinander ist.

Im beruflichen und selbst privaten Alltag führt dies oft dazu, dass auf Englisch ausgewichen wird. Es ist die eigentliche Weltsprache und dermassen omnipräsent, dass es selbst Donald Trumps Angriff auf die Soft Power der USA überstehen wird. Und erst noch einfacher als das Französische mit seinem Subjonctif und den Accents («Auf der Oder schwimmt kein Graf»).

Grundsätzliche Malaise

Die Dominanz des Englischen dient gerne als Vorwand, um Französisch in die Oberstufe «abzuschieben». Den Schaden für das Harmos-Konkordat nimmt man in Kauf, trotz der erreichten Fortschritte. Es beseitigte den Flickenteppich im Schulwesen, der dazu führte, dass in einigen vorab Deutschschweizer Kantonen das Schuljahr im Frühling begann und anderswo im Sommer.

Französischunterricht kann mühsam sein, das müssen auch seine Verfechter zugeben. Und doch wird man den Eindruck nicht los, dass Frühfranzösisch in der Primarschule als «Prügelknabe» für eine grundsätzliche Malaise herhalten muss. Als Kind ist man heute mit Herausforderungen konfrontiert, die man sich zu meiner Zeit nicht einmal vorstellen konnte.

Stress an den Schulen

Das beginnt mit Ablenkungen aller Art, die sich auf die Konzentrationsfähigkeit auswirken. Gleichzeitig werden die Lerninhalte anspruchsvoller und vielfältiger. Das stresst die Lehrpersonen und die Schülerinnen und Schüler gleichermassen. Immer mehr Kantone und Gemeinden überlegen sich ein Handyverbot an den Schulen, ausser zu Unterrichtszwecken.

Eine Lehrperson bringt eine Handygarage mit den Mobiltelefonen seiner Schueler ins Klassenzimmer, fotografiert am Donnerstag, 8. Mai 2025 an einer Schule in Bern. (KEYSTONE/Christian Beutler)
Ein Handyverbot wird in immer mehr Kantonen und Gemeinden zum Thema.Bild: keystone

Der Handlungsbedarf lässt sich kaum bestreiten. Im Deutschunterricht etwa befindet sich das Niveau seit Jahren im «Sinkflug». Ähnliche Probleme gibt es bei der Mathematik, die allerdings noch nie sonderlich beliebt war. Frühfranzösisch bietet sich da als «Blitzableiter» an, und bereits stehen Forderungen im Raum, die deutlich weitergehen.

Fokus auf das Lernen

So postulierte die FDP Schweiz, stets auf der Suche nach zugkräftigen Themen, unter dem Schlagwort «Rettung der Volksschule» vor einem Jahr die Abschaffung der integrativen Schule. Kinder, die schlecht Deutsch sprechen oder verhaltensauffällig sind, sollen nach dem Willen der Freisinnigen temporär in Förderklassen unterrichtet werden.

Gleichzeitig wendet sich die FDP gegen nach ihrer Ansicht «woke» Lehrmittel. Und selbst Pädagogen äussern sich kritisch über das heutige Schulsystem, das Lehrkräfte wie Kinder überfordere. Sie verlangen, dass der Fokus wieder auf das Lernen als Vermitteln von Inhalten gelegt wird und nicht von Kompetenzen, wie im Lehrplan 21 vorgesehen.

Wenig durchdachte Alternativen

Darüber bräuchte es eine vertiefte Diskussion, und nicht Schnellschüsse wie den Angriff auf das Frühfranzösisch. Die genannten Alternativen sind wenig durchdacht, etwa vermehrte Austauschprogramme zwischen den Sprachregionen. Denn die Romandie hat dreimal weniger Einwohner als die Deutschschweiz und wäre damit wohl rasch überfordert.

Die Gegner der Abschaffung sprachen sich am Montag im Zürcher Kantonsrat für einen spielerischen und lustvollen Französischunterricht aus, mit weniger Grammatik und mehr bilingualen Inhalten. Allerdings gab es entsprechende Versuche, mit dem Ergebnis, dass die Schulkinder beim Eintritt in die Oberstufe praktisch von vorn anfangen mussten.

Doppelte Sprachminderheit

Silvia Steiner hat nun zwei Jahre Zeit, um eine Umsetzungsvorlage zu präsentieren. Und die folgenden Auseinandersetzungen mit Harmos würden noch einmal drei Jahre in Anspruch nehmen, warnte sie. Steiner war bis Ende letzten Jahres Präsidentin der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Sie weiss, wovon sie spricht.

Zweifellos tun sich auch die Romands schwer mit dem Deutschunterricht an der Schule. Doch sie haben ein zusätzliches Problem: In der Deutschschweiz spricht man Dialekt. Damit bekommen sie ihren Status als Sprachminderheit doppelt zu spüren. Auch solches gilt es zu bedenken, bevor man sich den «Prügelknaben» Frühfranzösisch vorknöpft.

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Die beliebtesten Kommentare
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Bananensalat
02.09.2025 16:16registriert Dezember 2016
Englischlehrer an der Oberstufe hier: Schafft sowohl Frühfranz wie auch Frühenglisch ab und steckt all die Zeit in brauchbaren Deutschunterricht. Wer eine Fremdsprache lernen will, muss die Muttersprache richtig beherrschen. Für die investierte Zeit ist Englischniveau zu Beginn der Oberstufe gelinde gesagt etwas ernüchternd.
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Nony
02.09.2025 15:35registriert Februar 2019
Klingt alles toll - in der Theorie. Kommen Sie doch mal in der Schule vorbei. Hier sprechen auch viele Kinder ohne Migrationshintergrund nicht mehr altersentsprechend deutsch. Ganz zu schweigen von Kindern mit Migrationshintergrund, denen neben deutsch auch die Kompetenzen in der Muttersprache häufig komplett fehlen. Und auf dieser Basis machen wir dann lustvollen Französischunterricht in NMG? Wie soll das gehen? Noch dazu, weil auch immer weniger Erwachsene und damit auch Lehrpersonen nur sehr rudimentäre Franzkenntnisse vorweisen können. Und das Beschriebene ist nur die Spitze des Eisbergs.
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International anerkannter Experte für ALLES
02.09.2025 15:19registriert Juli 2021
Ich bin noch so alt, dass wir Fremdsprachen erst ab Oberstufe gelernt hatten. Guess what? Ich kann’s trotzdem. Egal ob Frühenglisch oder Frühfranzösisch: Der Erfolg ist messbar minimal (es gibt Studien) und man könnte die Stunden in der Unter-und Mittelstufe besser einsetzen.
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