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Die Grünen im Niemandsland: Nun soll es Lisa Mazzone richten

Der Parteipraesident der Gruenen Schweiz, Balthasar Glaettli, links, und Wahlkampfleiterin Lisa Mazzone, rechts, anlaesslich der Delegiertenversammlung der Gruenen Partei Schweiz im Stadttheater von O ...
Balthasar Glättli mit Lisa Mazzone, die am Samstag zu seiner Nachfolgerin gewählt wird.Bild: keystone
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Die Sinnkrise der Grünen: Eine Partei im politischen Niemandsland

Die Grünen wählen mit Lisa Mazzone eine neue Parteipräsidentin. Sie tritt ihr Amt in einer schwierigen Zeit an. Nach der Wahlniederlage im letzten Herbst steckt die Partei im Niemandsland fest.
05.04.2024, 09:3006.04.2024, 11:34
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Manche Politiker-Biografien verlaufen alles andere als geradlinig. Das gilt sogar für einen Giganten wie den britischen Kriegspremier Winston Churchill. Von 1929 bis 1939 war er von wichtigen Ämtern ausgeschlossen und als normaler Abgeordneter auf die Hinterbänke im Unterhaus verbannt worden. Als «Jahre in der Wildnis» bezeichnete er selbst diese Zeit.

Einen Link von Churchill zu den Schweizer Grünen herzustellen, ist nicht einfach. Und doch macht die Partei eine ähnliche Erfahrung. Bei den Wahlen 2019 hatte sie einen historischen Triumph errungen, getragen von der Klimastreik-Bewegung. Vier Jahre später folgte der Rückschlag. Die Grünen verloren Wähleranteile und Sitze im National- und im Ständerat.

Bundesratskandidat und Nationalrat, Gerhard Andrey, GP-FR, reagiert bei den Gesamterneuerungswahlen des Bundesrates durch die Vereinigte Bundesversammlung, am Mittwoch, 13. Dezember 2023 im Nationalra ...
Mit Gerhard Andrey erlebten die Grünen eine weitere Schlappe bei der Bundesratswahl, auch wegen fehlender Unterstützung aus der SP.Bild: keystone

Bei der Bundesratswahl im Dezember folgte der nächste Tiefpunkt. Trotz der Verluste bei den Wahlen versuchten es die Grünen einmal mehr und präsentierten mit dem Freiburger Nationalrat und IT-Unternehmer Gerhard Andrey einen valablen Kandidaten. Doch die SP, ihre wichtigste Verbündete im Parlament, liess sie am Morgen des Wahltags im Stich.

Die Sicherung ihres zweiten Sitzes lag der SP näher als die Unterstützung eines grünen Angriffs auf FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Die Grünen waren wütend über den «Verrat» im eigenen Lager, doch ihre Reaktion war ein Ausdruck von Ohnmacht. Die Wahlniederlage hat sie ins politische Niemandsland – oder in Churchills Worten – in die Wildnis geführt.

«Das Gesicht der Niederlage»

Teilweise versuchten sie, sich diese Realität schönzureden. Das Resultat am 22. Oktober sei das zweitbeste in der 40-jährigen Parteigeschichte gewesen, hiess es. Präsident Balthasar Glättli aber wollte die Grünen zur drittstärksten Partei machen. Am Ende kamen sie auf Platz 5 und sackten unter die psychologisch wichtige 10-Prozent-Schwelle.

Der analytisch brillante, aber manchmal «verkopft» wirkende Glättli zog die Konsequenzen und trat als Parteipräsident zurück, mit der Begründung, er sei «das Gesicht der Niederlage». Am Samstag bestimmen die Delegierten in Renens (VD) seine Nachfolgerin. Die ehemalige Genfer Ständerätin Lisa Mazzone ist die einzige Kandidatin, ihre Wahl ist Formsache.

Von den Bürgerlichen vorgeführt

Auf sie wartet eine schwierige Aufgabe, und das nicht nur, weil sie nicht mehr im Parlament vertreten ist. Die Niederlage hat den Grünen nicht nur psychologisch zugesetzt. Sie haben Geld und Einfluss etwa in den Kommissionen verloren. Die Bürgerlichen nützen dies eiskalt aus. Sie lassen kaum eine Gelegenheit aus, um die Grünen regelrecht vorzuführen.

Es begann mit dem faktischen Rauswurf des Berner Nationalrats und praktizierenden Biobauern Kilian Baumann aus der Konferenz der bäuerlichen Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Bauernverbandspräsident Markus Ritter verneinte gegenüber watson ein Problem mit der Partei. Es gehe um die Person: «Kilian Baumann ist ein Schwieriger.»

Rückschläge in der Frühjahrssession

Doch die Grünen kamen auch sachpolitisch im wahrsten Sinn unter die Räder, vor allem in der Frühjahrssession. Das Parlament verabschiedete ein zahn- und mutloses CO2-Gesetz, mit dem die Schweiz die Pariser Klimaziele niemals erfüllen kann. Mehrere Rückschläge gab es bei der Revision des Umweltschutzgesetzes, etwa beim Lärmschutz oder bei Tempo 30.

Nationalraetin Aline Trede, GP-BE, rechts, und Nationalrat Bastien Girod, GP-ZH, 2. von links, verfolgen die Differenzbereinigung um das CO2 Gesetz, an der Fruehjahrssession der Eidgenoessischen Raete ...
Nationalrat Bastien Girod und Fraktionschefin Aline Trede (hinten) verfolgen mit Besorgnis die Beratung über das CO2-Gesetz im Ständerat.Bild: keystone

Die Lenkungsabgabe auf flüchtige organische Verbindungen (VOC) soll nach dem Willen des Nationalrats sogar abgeschafft werden. Die Referendumsdrohung der Grünen verpuffte ins Leere. Hart waren auch die Streichung der versprochenen Biodiversitäts-Flächen in der Landwirtschaft und die Aufweichung des Zweitwohnungsgesetzes im Ständerat.

Back to the roots?

Die Förderung der Kreislaufwirtschaft war ein rarer Lichtblick in einer trüben Sessionsbilanz. Man könnte fast von einem Rachefeldzug der Bürgerlichen sprechen, doch Fraktionschefin Aline Trede nannte gegenüber der «NZZ am Sonntag» ein anderes Motiv: «Verlieren können wir Grünen ja, aber momentan versucht man einfach, uns zu ignorieren.»

Genau so fühlt es sich im politischen Niemandsland an. Für die Partei stellt sich die fast schon existenzielle Frage, wie sie damit umgehen will. In Gesprächen vernimmt man den Wunsch, die Grünen «back to the roots» zu führen und wieder verstärkt als Bewegung zu positionieren. Lisa Mazzone sei als Nicht-Parlamentsmitglied dafür geeignet.

Strukturelle Mängel

Allerdings hat sich die Genferin im Bundeshaus eine Reputation als pragmatische «Dealmakerin» mit den Bürgerlichen erworben. Erfolgreich war sie damit bei Energiethemen, etwa dem Stromgesetz, über das am 9. Juni abgestimmt ist. Und auch wenn sie künftig in Bern präsent sein wird, haftet an Mazzone das Stigma einer abgewählten Ständerätin.

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Die Klimakleber verärgerten viele und trugen so zur Niederlage der Grünen im letzten Oktober bei.Bild: keystone

«Mit reiner Ideologie kommt man nicht weit», sagte sie gegenüber CH Media und brachte damit das Spannungsfeld der Grünen zwischen Öko-Bewegung und institutioneller Politik zum Ausdruck. Hinzu kommt, dass die Partei nach Ansicht von Kritikern strukturell schwach aufgestellt ist. Ihr fehlt eine schlagkräftige Kampagnenorganisation.

Es fehlt jemand wie Funiciello

Beispielhaft ist die Million, die die Grünen im Wahlkampf von der Sika-Erbin Carmita Burkard Kroeber erhalten haben. Es war die grösste Einzelspende in der Geschichte der Partei. Ein (kleiner) Teil wurde für eine App verwendet, die Mitglieder und Sympathisierende vernetzen sollte. Ob diese Investition effektiv war, fragt sich selbst die linke WoZ.

Es werde auch in Zukunft beides brauchen: Bundespolitik und Bewegungen, meinte die WoZ und kam zu einem eher ernüchternden Fazit: «Was die SP mit Tamara Funiciello hat – eine Politikerin, die an Demos genauso zu Hause wirkt wie im Ratssaal –, fehlt den Grünen leider.» Lisa Mazzone hat viele Qualitäten, aber eine Funiciello ist sie nicht.

Das Dilemma der Grünen ist vielfältig. Sie haben es nach 2019 versäumt, ein eigenständiges Profil ausserhalb der Klima- und Umweltpolitik zu entwickeln. Und sie waren mit Erwartungen des Klimastreiks konfrontiert, die sie nicht erfüllen konnten. Worauf sich enttäuschte Aktivsten auf die Strasse klebten und ihren Beitrag zum Misserfolg im letzten Oktober leisteten.

Seither befinden sich die Grünen in einer Art Sinnkrise. Dabei nimmt die Klimakrise auf der Sorgenliste der Bevölkerung nach wie vor einen Spitzenplatz ein. Wie sie dies trotz ihrer «Verbannung» auf die parlamentarischen Hinterbänke in Erfolge ummünzen können, ist die grosse Herausforderung, für Präsidentin Lisa Mazzone und die Partei als Ganzes.

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186 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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In vino veritas
05.04.2024 11:23registriert August 2018
Die Grünen sind nun mal eine Wassermelone. Aussen grün, innen rot. Wenn einem Wähler die Umwelt sehr wichtig ist, würde ich die GLP empfehlen. Die GLP hat umsetzbare und realistische Forderungen, welche mehrheitsfähig sind und deswegen umgesetzt werden. Und dazu hat sie nicht diesen fanatischen Hass auf Autos, Motorräder, Boote, Flugzeuge, Fleisch, EFH bzw. grosse WHG, Männer, Wohlhabende usw. Als i Tüpfelchen machen sie bei diesem woken Anliegen grösstenteils nicht mit. Die App ist Beispielhaft, wie fernab diese Partei von der Realität ist. Eine Webseite hätte einen Bruchteil gekosten.
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Ricolato
05.04.2024 09:51registriert Juni 2023
Ja, ich sehe die Klimakleber und die Extremforderungen als Ursache für die Verluste. Aber der Churchill Vergleich? Was machte Churchill nach seinen Jahren in der Wildniss? Er kam zurück als Premierminister während des Zweiten Weltkriegs. Der Vergleich gefällt mir nicht.
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GustiGR
05.04.2024 10:17registriert November 2015
Wieso soll man auch noch die Grünen wählen? SP bei Wish bestellt, oder so ähnlich.
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