Manche Politiker-Biografien verlaufen alles andere als geradlinig. Das gilt sogar für einen Giganten wie den britischen Kriegspremier Winston Churchill. Von 1929 bis 1939 war er von wichtigen Ämtern ausgeschlossen und als normaler Abgeordneter auf die Hinterbänke im Unterhaus verbannt worden. Als «Jahre in der Wildnis» bezeichnete er selbst diese Zeit.
Einen Link von Churchill zu den Schweizer Grünen herzustellen, ist nicht einfach. Und doch macht die Partei eine ähnliche Erfahrung. Bei den Wahlen 2019 hatte sie einen historischen Triumph errungen, getragen von der Klimastreik-Bewegung. Vier Jahre später folgte der Rückschlag. Die Grünen verloren Wähleranteile und Sitze im National- und im Ständerat.
Bei der Bundesratswahl im Dezember folgte der nächste Tiefpunkt. Trotz der Verluste bei den Wahlen versuchten es die Grünen einmal mehr und präsentierten mit dem Freiburger Nationalrat und IT-Unternehmer Gerhard Andrey einen valablen Kandidaten. Doch die SP, ihre wichtigste Verbündete im Parlament, liess sie am Morgen des Wahltags im Stich.
Die Sicherung ihres zweiten Sitzes lag der SP näher als die Unterstützung eines grünen Angriffs auf FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Die Grünen waren wütend über den «Verrat» im eigenen Lager, doch ihre Reaktion war ein Ausdruck von Ohnmacht. Die Wahlniederlage hat sie ins politische Niemandsland – oder in Churchills Worten – in die Wildnis geführt.
Teilweise versuchten sie, sich diese Realität schönzureden. Das Resultat am 22. Oktober sei das zweitbeste in der 40-jährigen Parteigeschichte gewesen, hiess es. Präsident Balthasar Glättli aber wollte die Grünen zur drittstärksten Partei machen. Am Ende kamen sie auf Platz 5 und sackten unter die psychologisch wichtige 10-Prozent-Schwelle.
Der analytisch brillante, aber manchmal «verkopft» wirkende Glättli zog die Konsequenzen und trat als Parteipräsident zurück, mit der Begründung, er sei «das Gesicht der Niederlage». Am Samstag bestimmen die Delegierten in Renens (VD) seine Nachfolgerin. Die ehemalige Genfer Ständerätin Lisa Mazzone ist die einzige Kandidatin, ihre Wahl ist Formsache.
Auf sie wartet eine schwierige Aufgabe, und das nicht nur, weil sie nicht mehr im Parlament vertreten ist. Die Niederlage hat den Grünen nicht nur psychologisch zugesetzt. Sie haben Geld und Einfluss etwa in den Kommissionen verloren. Die Bürgerlichen nützen dies eiskalt aus. Sie lassen kaum eine Gelegenheit aus, um die Grünen regelrecht vorzuführen.
Es begann mit dem faktischen Rauswurf des Berner Nationalrats und praktizierenden Biobauern Kilian Baumann aus der Konferenz der bäuerlichen Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Bauernverbandspräsident Markus Ritter verneinte gegenüber watson ein Problem mit der Partei. Es gehe um die Person: «Kilian Baumann ist ein Schwieriger.»
Doch die Grünen kamen auch sachpolitisch im wahrsten Sinn unter die Räder, vor allem in der Frühjahrssession. Das Parlament verabschiedete ein zahn- und mutloses CO2-Gesetz, mit dem die Schweiz die Pariser Klimaziele niemals erfüllen kann. Mehrere Rückschläge gab es bei der Revision des Umweltschutzgesetzes, etwa beim Lärmschutz oder bei Tempo 30.
Die Lenkungsabgabe auf flüchtige organische Verbindungen (VOC) soll nach dem Willen des Nationalrats sogar abgeschafft werden. Die Referendumsdrohung der Grünen verpuffte ins Leere. Hart waren auch die Streichung der versprochenen Biodiversitäts-Flächen in der Landwirtschaft und die Aufweichung des Zweitwohnungsgesetzes im Ständerat.
Die Förderung der Kreislaufwirtschaft war ein rarer Lichtblick in einer trüben Sessionsbilanz. Man könnte fast von einem Rachefeldzug der Bürgerlichen sprechen, doch Fraktionschefin Aline Trede nannte gegenüber der «NZZ am Sonntag» ein anderes Motiv: «Verlieren können wir Grünen ja, aber momentan versucht man einfach, uns zu ignorieren.»
Genau so fühlt es sich im politischen Niemandsland an. Für die Partei stellt sich die fast schon existenzielle Frage, wie sie damit umgehen will. In Gesprächen vernimmt man den Wunsch, die Grünen «back to the roots» zu führen und wieder verstärkt als Bewegung zu positionieren. Lisa Mazzone sei als Nicht-Parlamentsmitglied dafür geeignet.
Allerdings hat sich die Genferin im Bundeshaus eine Reputation als pragmatische «Dealmakerin» mit den Bürgerlichen erworben. Erfolgreich war sie damit bei Energiethemen, etwa dem Stromgesetz, über das am 9. Juni abgestimmt ist. Und auch wenn sie künftig in Bern präsent sein wird, haftet an Mazzone das Stigma einer abgewählten Ständerätin.
«Mit reiner Ideologie kommt man nicht weit», sagte sie gegenüber CH Media und brachte damit das Spannungsfeld der Grünen zwischen Öko-Bewegung und institutioneller Politik zum Ausdruck. Hinzu kommt, dass die Partei nach Ansicht von Kritikern strukturell schwach aufgestellt ist. Ihr fehlt eine schlagkräftige Kampagnenorganisation.
Beispielhaft ist die Million, die die Grünen im Wahlkampf von der Sika-Erbin Carmita Burkard Kroeber erhalten haben. Es war die grösste Einzelspende in der Geschichte der Partei. Ein (kleiner) Teil wurde für eine App verwendet, die Mitglieder und Sympathisierende vernetzen sollte. Ob diese Investition effektiv war, fragt sich selbst die linke WoZ.
Es werde auch in Zukunft beides brauchen: Bundespolitik und Bewegungen, meinte die WoZ und kam zu einem eher ernüchternden Fazit: «Was die SP mit Tamara Funiciello hat – eine Politikerin, die an Demos genauso zu Hause wirkt wie im Ratssaal –, fehlt den Grünen leider.» Lisa Mazzone hat viele Qualitäten, aber eine Funiciello ist sie nicht.
Das Dilemma der Grünen ist vielfältig. Sie haben es nach 2019 versäumt, ein eigenständiges Profil ausserhalb der Klima- und Umweltpolitik zu entwickeln. Und sie waren mit Erwartungen des Klimastreiks konfrontiert, die sie nicht erfüllen konnten. Worauf sich enttäuschte Aktivsten auf die Strasse klebten und ihren Beitrag zum Misserfolg im letzten Oktober leisteten.
Seither befinden sich die Grünen in einer Art Sinnkrise. Dabei nimmt die Klimakrise auf der Sorgenliste der Bevölkerung nach wie vor einen Spitzenplatz ein. Wie sie dies trotz ihrer «Verbannung» auf die parlamentarischen Hinterbänke in Erfolge ummünzen können, ist die grosse Herausforderung, für Präsidentin Lisa Mazzone und die Partei als Ganzes.