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Von animiert bis alkoholisiert: Der Schweizer Filmpreis feiert die grosse Entgrenzung
Der peinlichste Moment des Abends ist, als die Moderatorin von der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch einen Zweifränkler verlangt. Um ihn in eine menschliche Jukebox zu schmeissen. Menschliche Jukeboxes sollten dringend unterbunden werden. Besonders an einer Veranstaltung, die gleichzeitig auf drei Schweizer TV-Sendern live ausgestrahlt wird.
Aber es ist nichts zu machen gegen die Band Klischée, die zwei Edith-Piaf-Nummern gemixt hat und dazu auf Französisch einen grässlichen Text über das Schweizer Filmschaffen legt, aus dem heraus immer wieder die Worte «Erfolg» und «aufregend» zu vernehmen sind. Jaja, die Kraft des positiven Denkens. Die Band hat «extra die Arbeit an ihrem zweiten Album unterbrochen, um diesen Song für uns zu schreiben», sagt die Moderatorin, deren zitronenfaltergelbes Kleid von der Seite sehr schön ausschaut. Die Band hätte ihre Arbeit wirklich nicht unterbrechen müssen.
Und der schönste Moment? Schwierig. Nein! Der schönste Moment, das sei hier ganz parteiisch festgehalten, war, als Micha Lewinsky den Preis für das beste Drehbuch («Nichts passiert») entgegen nehmen darf. Genau so sollten alle Schweizer Filmdialoge geschrieben werden. So präzis und ohne immer das Offensichtliche breit zu walzen. Also nicht so:
Fünfzehn Menschen erhalten also Preise am Freitagabend im Zürcher Schiffbau. Drei davon sind Frauen. Immerhin stehen hinter dem besten Spielfilm und dem besten Dokumentarfilm zwei Produzentinnen (es sind die gleichen) und der Siegerfilm «Köpek» wurde von einer Frau gedreht. Da muss man ja schon dankbar sein.
Das sind die Gewinner:
- Bester Spielfilm: «Köpek» (Regie: Esen Işık)
- Bester Dokumentarfilm: «Above and Below» (Regie: Nicolas Steiner)
- Beste Darstellerin: Beren Tuna in «Köpek»
- Bester Darsteller: Patrick Lapp in «La vanité»
- Beste Darstellung in einer Nebenrolle: Ivan Georgiev in «La vanité»
- Bestes Drehbuch: Micha Lewinsky für «Nichts passiert»
- Beste Kamera: Felix von Muralt für «Schellen-Ursli»
- Beste Filmmusik: Marcel Vaid mit «Als die Sonne vom Himmel fiel»
- Bester Kurzfilm: «Kacey Mottet Klein, naissance d'un acteur» (Regie: Ursula Meier)
- Bester Animationsfilm: «Erlkönig» (Regie: Georges Schwitzgebel)
- Beste Montage: Kaya Inan für «Above and Below»
- Bester Abschlussfilm: «Ruben Leaves» (Regie: Frederic Siegel)
- Ehrenpreis: Renato Berta, Kameramann
- Spezialpreis der Akademie: Die beiden Tonmischer Guido Keller («Köpek») und Jacques Kieffer («Above and Below»)
Gewinner – und Verlierer
«Köpek»-Regisseurin Esen Işık ist in Istanbul aufgewachsen und lebt seit 1990 in der Schweiz. «Köpek» zeigt einen Tag in Istanbul, zeigt arme Kinder, eine transsexuelle Prostituierte, eine drangsalierte Ehefrau. Die Darstellerin der Ehefrau, Beren Tuna, kam in Deutschland zur Welt, verbrachte ihre Kindheit in der Türkei und lebt heute in Zürich. «Ich habe für mich ein Land zum Leben ausgewählt», sagt sie, «und offenbar spielen in diesem Land die Fragen ‹Ist das ein Schweizer Film? Ist das eine Schweizer Schauspielerin?› keine Rollen. Zu so einem Land sag ich von Herzen ja.» Hier ist die Schweiz schwer in Ordnung.
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Am lautesten freuen sich im Schiffbau immer die Romands. Und der Dokfilmer Nicolas Steiner kann vor Überwältigung nicht mehr an sich halten und wechselt von Hochdeutsch auf Walliserdeutsch. Die ganze Veranstaltung ist eh dreisprachig. Mindestens. Und die Frage steht im Raum, ob das Tessiner Model Aomi Muyock bei der Verkündigung des besten Animationsfilm bloss besonders animiert oder nicht auch recht alkoholisiert ist.
Spielfilm:
«Heimatland»: 13'897 Zuschauer, abgespielt.
«La Vanité»: 8942 Zuschauer, abgespielt.
«Amateur Teens»: 5708 Zuschauer, abgespielt.
«Nichts Passiert»: 4425 Zuschauer, läuft seit Mitte Februar.
«Köpek»: 3554 Zuschauer, abgespielt.
Dokumentarfilm:
«Als die Sonne vom Himmel viel»: 6567 Zuschauer, läuft seit Anfang Januar.
«Above and Below»: 2824 Zuschauer, läuft seit 3 Wochen.
«Dirty Gold War»: 1736 Zuschauer, abgespielt.
«Grozny Blues»: Noch nicht gestartet.
Im Vergleich:
«Heidi»: 489'988 Zuschauer, läuft seit Dezember 2015.
«Schellen-Ursli»: 426'841 Zuschauer, läuft seit Mitte Oktober 2015.
Beide Filme haben damit gut halb so viele Zuschauer wie der letzte Bond-Film «Spectre».
Bundesrat Alain Berset übergibt den Ehrenpreis an Renato Berta, den 71-jährigen Kameramann aus Bellinzona, der mit Godard, Chabrol, Resnais, Rivette oder Rohmer gedreht hat. Berset (oder sein Redenschreiber) fabuliert lange über die Allgegenwärtigkeit von Kameras in unserem Leben und auf jedem Handy. Und darüber, dass zu seinem, Bersets, Leidwesen Handys im Bundesratszimmer in Bern verboten sind. Dabei ist er sich doch sicher, dass seine Amateurfilme eine «besondere ästhetische Qualität» hätten. Und so weiter.
Doch dann kriegt er (oder sein Redenschreiber) die Kurve zum Kern endlich und Berta seinen Ehrenquartz und alle sind erlöst und dürfen auf einander anstossen. Und sonst so? Sonst ist nichts passiert.
Alle ausgezeichneten Filme gibt es am Sa, 19., und So, 20. März gratis im Zürcher Filmpodium zu sehen.
