Es stellt sich ja am Filmfestival Locarno alljährlich die Frage: Wieso bin ich schon wieder hier? Wegen der Filme? Ähm, nein. Noch nie. Locarno-Filme lassen einen nämlich direkt in eine tiefe Depressionsstarre verfallen. Früher, als ich noch mit meiner Basler WG mehrere schäbige Ferienwohnungen in Ascona mietete und die freien Betten enorm teuer an bedürftige Zürcher (etwa an den Ghostwriter von Bundesrat Alain Berset) untervermietete, lasen wir einander jeweils aus dem Locarno-Programm vor. 2017 klingt es genau wie damals. Nach Filmen, die wir alle sofort sehen wollen. Etwa so:
Wieso also bin ich hier? Ah ja, um zu schwitzen! Macht man ja sonst nie. Egal! Das Festival hat gesagt, watson ist ein Medium der Gegenwart UND Zukunft und ohne watson geht's nicht, weshalb watson nach 45 Minuten Niedergaren unter einem liebevoll von der Sonne gestreichelten Glasdach folgendes Geschenk überreicht wurde:
Quasi ein dekonstruiertes Armeesackmesser. Von dem sich jedes einzelne Teil tiptop verlieren lässt. Dazu noch eine Holzkuh, die einen eigenen Twitteraccount betreibt, aber trotzdem doof ist.
I am checking with my friend of #Locarno if everything is ready for the Opening Ceremony of the @FilmFestLocarno tonight! 🐮🇨🇭🎬#Locarno70 pic.twitter.com/dWFhlaO3Nv
— Happy Lilly (@HappyLilly_) 2. August 2017
Fast stürzten mich diese sorgsam ausgesuchten Geschenke in eine Depression, wie sie die Protagonisten folgender Filme erleben:
Aber egal! Die kleinen Klischeeperlen hatten natürlich ihren Sinn. Sie umrahmten ironisch den Eröffnungsfilm mit dem Titel «Willkommen in der Schweiz». Den neuen Dokfilm von Sabine Gisiger über ein aargauisches Dorf namens Oberwil-Lieli, das sich eine Weile lang wie ein Kleinstaat im Staat gebärdete, ein Ort, an dem die Gesetze der Mehrheit nichts zählen.
Es war, muss man sagen, ein klug gewählter Eröffnungsfilm, denn die vielen ausländischen Festivalgäste, die weder von SVP-Hardliner und Gemeindeammann Andreas Glarner noch von seiner Kontrahentin Johanna Gündel je gehört hatten, konnten nicht fassen, was sie da sahen. Diesen Mann mit dem komischen Haar, der immerzu das Lukas-Evangelium («Denn sie wissen nicht, was sie tun.») zitiert und sagt, dass Frankreich und Deutschland bis in ein paar Jahren islamisiert sein würden und dass die Grenzen geschlossen gehörten. Und diese junge Frau, die ebenfalls recht bibelfest ist und eine Jeanne d'Arc der Asylpolitik.
Am Ende hatten die Menschen aus Oberwil-Lieli getan, was sie am liebsten tun, nämlich enorm viel Geld gespendet, um das Flüchtlingsproblem an die Krisenländer zurück zu delegieren, und ein paar wenige Flüchtlinge – aber nur christliche – aufgenommen. Gündel und Glarner standen sich noch einmal in einer Mehrzweckhalle, im Ring einer Gemeindeversammlung, gegenüber.
Doch die Frage war: Abgesehen davon, dass «Willkommen in der Schweiz» sowas wie die verdienstvollste, umfassendste Darstellung des Falls Oberwil-Lieli ist – kennen wir das nicht schon alles? Wo ist der Mehrwert? «Schulfernsehen», sagte der klügste Kritiker von allen und hatte damit leider nicht Unrecht. Und es war zwar schön und hoch emotional, dass Migranten im Film immer in Chören singend auftreten durften, weil die Musik ja schliesslich unser aller Sprache ist, aber wieso durften sie nicht erzählen? Wieso nur die Schweizer Protagonisten?
Und sonst? Ach ja, Bundesrat Alain Berset ist auch in der Stadt und hält diverse Reden. Aber es ist mit den Bundesräten ja wie mit den Ex-Missen: Sie sind überall, und ihre Ghostwriter nehmen auch keine anderen Drogen als wir. Und ich frage mich, welchen dieser Filme sich Herr Berset in den kommenden Tagen noch gönnen wird:
Fortsetzung folgt ...