Die Welt ist «vermutlich so gefährdet wie nie zuvor, die Kontrolle über die HIV-Epidemie» zu verlieren. Diesen Satz sagte US-Aids-Experte und Diplomat Mark Dybul am Sonntag in Amsterdam. Bis Freitag findet dort eine Aids-Konferenz statt. Dybul spricht von einer alarmierenden Zahl von Neuinfektionen in besonders betroffenen Ländern.
2017 steckten sich 1,8 Millionen Menschen mit dem HI-Virus an. Das sind 18 Prozent weniger als noch 2010.
Insgesamt nimmt die Anzahl HIV-Infizierungen folglich ab. Schaut man jedoch genauer hin, ist das nicht überall auf der Welt der Fall. In rund 50 Ländern haben sich 2017 mehr Menschen mit HIV angesteckt, als noch in den Jahren zuvor. In Osteuropa und Zentralasien ist die Anzahl Neuinfektionen um 30 Prozent gestiegen. Auch im mittleren Osten und in Nordafrika haben sich 12 Prozent mehr Menschen mit dem HI-Virus infiziert.
Die Situation ist folglich noch lange nicht beruhigt. Laut Unaids, dem Programm der Vereinten Nationen für die Bekämpfung von HIV/Aids, stecken sich jeden Tag 5'000 Menschen mit HIV an. Besonders gefährdet sind Mädchen und junge Frauen. Drei von vier Neuinfektionen in Afrika entfallen auf Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren. Sie stecken sich an, weil sie keinen Zugang zu Aufklärung und Verhütungsmittel haben.
Das ursprüngliche Ziel von Unaids war es, die Ausbreitung des HI-Virus bis 2030 zu stoppen. Doch dieses Ziel ist in weite Ferne gerückt. Politikern, Wissenschaftlern und Aktivisten der Welt-Aids-Konferenz zufolge, ist der Kampf gegen den HI-Virus in den letzten Jahren nachlässig geführt worden. Wenn sich das nicht bald ändere, komme es in den nächsten Jahren zu einer schleichenden Epidemie, sagen die Experten.
Die Gründe für die Zielverfehlung sind in erster Linie finanzieller Natur. Laut Unaids-Chef Michel Sidibé kommt es 2020 zu einer riesigen Finanzierungslücke. Spenden und staatliche Finanzmittel gehen zurück.
Es fehlen rund sieben Milliarden Dollar, die den Kampf gegen Aids unterstützen sollen. «Wenn wir jetzt nicht zahlen, werden wir später mehr und mehr ausgeben müssen», warnte Sidibé.
Sorgen bereiten vor allem Osteuropa und Zentralasien. Betroffen sind auch einige EU-Staaten, darunter Tschechien, Ungarn oder die Slowakei. In Teilen Russlands hat sich die HIV-Epidemie massiv ausgeweitet.
Ein grosses Problem ist die Politik und die gesellschaftliche Stigmatisierung von HIV-Positiven in den betroffenen Ländern. So ist in Russland der Zugang zu Opioid-Ersatztherapien oder frischen Spritzen für Süchtige extrem eingeschränkt. Auch die zunehmende Ächtung von Homosexuellen trägt dazu bei, dass kaum Aufklärung über HIV betrieben wird.
Unaids berichtet aber auch von Erfolgen. So sind HIV-Infektionen in Ost- und Südafrika seit 2010 um rund 30 Prozent gesunken.
In der Schweiz leben rund 20'000 Personen mit dem HI-Virus. Die Situation ist aber laut Daniel Seiler, Geschäftsführer der Aids-Hilfe Schweiz, stabil. «Unsere Präventionsarbeit der vergangenen Jahre zeigt Erfolge. Alarmierende Anzeichen gibt es nicht», so Seiler. Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind die neu gemeldeten HIV-Fälle im letzen Jahr um knapp 20 Prozent gesunken.
Trotz der positiven Bilanz, bleibt die Aufklärung weiterhin enorm wichtig, sagt Seiler: «Damit dieser erfreuliche Trend anhält, müssen die Präventionsanstrengungen und somit auch die Finanzierungen durch öffentliche Hand sowie Private aufrecht erhalten werden.»
Die globalen und nationalen Aids-Kampagnen haben sehr wohl etwas bewirkt. Heute sterben nur noch halb so viele Menschen an Aids wie noch vor 15 Jahren. Aids ist zwar nicht heilbar, mithilfe von Medikamenten haben Menschen mit HIV aber eine annähernd normale Lebenserwartung- und Qualität.
21 Millionen Menschen nehmen solche Medikamente ein. Das sind 35 Mal mehr als Anfang des 21. Jahrhunderts.
Sorge bereitet dem amerikanischen Aids-Experten Mark Dybul vor allem eines: Die Staaten schenken der Bekämpfung von HIV und Aids nicht mehr so viel Aufmerksamkeit wie in früheren Jahren. Und wenn, dann rücken vermehrt die lebensrettenden Medikamente zur Behandlung in den Vordergrund. Beispielsweise fehlt Geld für Kondomverteilungsaktionen, weil dieses für die Behandlung des HI-Virus ausgegeben wird.
(Mit Material von der sda)