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Kommentar: Staat, Geschlecht, Gesellschaft – Fluidität oder Untergang.

Spiel mit der Identität: David Bowie als Kunstfigur Ziggy Stardust (1972).
Spiel mit der Identität: David Bowie als Kunstfigur Ziggy Stardust (1972).Bild: AP
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Fluid werden! So könnten Staat und Gesellschaft ganz ohne Geschlechter funktionieren 

Der Bundesrat will Transmenschen Geschlechts- und Namensänderung erleichtern. Das ist gut. Ein drittes Geschlecht im Personenstandsregister einführen will er nicht. Das ist schlecht. Wie weiter? Ein Gedankenexperiment zu Gesellschaft und Geschlechtern.
26.05.2018, 11:1227.05.2018, 08:20
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Das Juristendeutsch lenkt davon ab, aber der Kerngedanke dahinter ist erfreulich progressiv:

«Jede Person, die innerlich fest davon überzeugt ist, nicht dem im Personenstandsregister eingetragenen Geschlecht zuzugehören, kann gegenüber der Zivilstandsbeamtin oder dem Zivilstandsbeamten erklären, dass sie den Eintrag ändern lassen will.»

Mit diesem Artikel will der Bundesrat das Zivilgesetzbuch ergänzen. Geschlechtsänderungen im Personenstandsregister sollen in Zukunft auf unbürokratische Weise möglich werden.

Der Vorentwurf des Bundesrats hat noch Mängel und ist teilweise zu mutlos ausgefallen. Enttäuschend ist, dass er darauf verzichtet, ein drittes Geschlecht einzuführen für Personen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen. Doch die grundsätzliche Stossrichtung stimmt.

Keine Lifestyle-Politik

Kritik kam von SVP-Nationalrat Sebastian Frehner. Er beklagte sich gegenüber 10 vor 10, im Sinne von «Diversity» würden heutzutage «Hunderte von Minderheiten geschaffen». Dabei ginge der «weisse, heterosexuelle, christliche Schweizermann» vergessen. So ähnlich tönt es aus konservativen Kreisen stets, wenn die Gesetze der real existierenden Vielfalt der Lebensformen in der Schweiz angepasst werden. Das wird als Verrat an der  traditionellen Familie gesehen, als Verhätschelung von Minderheiten.

Unrecht einen Riegel zu schieben, ist kein Minderheiten-Appeasement.

Aussagen wie jene von Frehner sind Unsinn. Die Rücksichtnahme auf Minderheiten ist keine «nice to have»-Lifestyle-Politik, sondern eine Frage der Menschlichkeit. Beispiel Transmenschen: Das Geschlecht ist einer der wirkungsmächtigsten gesellschaftlichen Marker. Wer im falschen geboren wurde, der leidet darunter. Selbstbestimmt das Geschlecht wählen zu können, dem man sich zugehörig fühlt, sollte deshalb ein Grundrecht sein.

Doch bis vor Kurzem wurden Transmenschen zu sterilisierenden Operationen gezwungen, wollten sie ihr Geschlecht im Personenstandsregister ändern lassen. Diesem Unrecht einen Riegel zu schieben, ist kein Minderheiten-Appeasement.

Geht Gesellschaft ohne Geschlecht?

Das enge Korsett des binären Geschlechtersystems schafft Leiden. Die Frage ist deshalb berechtigt: Warum muss der Staat, muss die Gesellschaft eigentlich jedem Menschen ein eindeutiges Geschlecht zuordnen? Im Nationalrat sind derzeit zwei Vorstösse hängig, die verlangen, den Verzicht auf die Geschlechtererhebung im Personenregister zu prüfen. Ein User präsentierte in seinem Kommentar einen noch weitergehenden Vorschlag.

Ohne Frage: Die völlige Auflösung der Geschlechter in Staat und Gesellschaft ist eine Utopie. Geschlechter machen Identität aus, sie können Halt geben und Orientierung. Unbeachtet von nicht-binären Menschen sind wir auch bei den «traditionellen Geschlechtern» Mann und Frau meilenweit von einer Gleichstellung entfernt. In dieser Hinsicht ist unsere Gesellschaft nicht egalitär. Deshalb würde ein «geschlechterblinder» Staat auch die Augen vor Diskriminierung schliessen.

Identität statt Diskriminierung

Einen solchen Staat darf es folglich erst in einer Gesellschaft geben, die Haus- und Erwerbsarbeit fair verteilt, die für gleiche Arbeit gleiche Löhne zahlt, die Partnerschaften und Familienformen ungeachtet von Geschlechtern und sexueller Orientierung akzeptiert. Doch als Utopie, als Fernziel, ist der Gedanke reizvoll.

Geschlechtliche Idealtypen zu konstruieren und Abweichungen davon zu diskriminieren, ist einer liberalen Demokratie unwürdig.

In dieser Gesellschaft bliebe das Geschlecht ein wichtiges Identitätsmerkmal, aber wäre kein Kriterium für Diskriminierung mehr. Und in einer solchen Gesellschaft gebe es keine Notwendigkeit mehr für Geschlechterunterschiede etwa beim Rentenalter, bei der allgemeinen Dienstpflicht oder beim Adoptionsrecht. Das würde zu einem entspannteren Umgang mit dem Thema führen – und die ungesund aufgewertete Bedeutung des Geschlechts reduzieren.

Denn Geschlechteridentitäten sind immer fluid, weiss die Forschung. Jeder noch so «männliche Mann» hat auch so genannt weibliche Seiten – und umgekehrt. Irgendwelche geschlechtlichen Idealtypen zu konstruieren und Abweichungen davon zu diskriminieren, ist einer liberalen Demokratie unwürdig. So entstehen Ungerechtigkeiten und Unrecht. Und das verhindert letzten Endes eine wahrhaft freiheitliche Gesellschaft. Wir müssen fluid sein – sonst werden wir untergehen.

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62 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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seuchengaul
26.05.2018 11:25registriert Januar 2018
leben und leben lassen.
aber dass sich die gesamte gesellschaft wieder nach ein paar wenigen richten soll geht mir gegen den strich! und zwar nicht nur bei der gender-sache. aber die ist sehr symptomatisch.
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Hierundjetzt
26.05.2018 14:19registriert Mai 2015
Nur damit ich es richtig einordnen kann: Wegen ca. 2‘000 Menschen stellen wir die Biologie auf den Kopf und werden geschlechtslos im Amtsverkehr?

Bei Pass, Mutterschaftsurlaub, Militär oder Lohngleichheit führen wir das Geschlecht dann wieder ein? Weil aus Gründen?

Wir sind ein Land der Minderheiten, gerne bin ich bereit jeder relevanten Ihre Besonderheiten zuzugestehen. In der KK Grundversicherung ist die Geschlechtsumwandlung mitversichert, eine Anpassung wie vom BR vorgeschlagen ist ok.

Aber das sich 99,975% Anpassen sollen? Nö. Das ist komplett lächerlich und peinlich
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stadtzuercher
26.05.2018 12:39registriert Dezember 2014
Bin dann mal gespannt, wenn all die geschlechterspezifischen Gesetze und Verordnungen umgeschrieben werden müssen. Geschlechtergetrennte Garderoben und WCs, Frauenparkplätze, Militärdienstzwang, Rentenalter...
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