Fragt ein Mann seine Frau: «Angenommen, du wärst morgen tot, welchen Film würdest du der Welt gern hinterlassen?» – «Einen Meerjungfrauenfilm!». Und die Frau geht hin, dreht einen Meerjungenfrauenfilm und alle, die ihn schon gesehen haben, fragen sich: What the fuck just happened?
Haben wir wirklich gerade gesehen, wie ein wütender junger Teenie Fische aus dem Aquarium frisst, sexsüchtig wird, sich Schwimmhäute zwischen den Zehen wegschnippelt? In dem das Thema Schwänze – von Fischen und von Männern – auf sehr direkte Art präsent ist? In dem das Conny-Land seine Auferstehung als trashiges Drogenparty-Paradies feiert?
Und nein, das sind jetzt keine Spoiler. Denn dass sich die 15-jährige Mia in eine Nixe verwandelt, wird bereits im Trailer klar. Aber wie genau sie dahin kommt, das ist sowas wie die krasseste Pubertätsgeschichte, die je in einem Schweizer Film gezeigt wurde.
Die Frau dahinter heisst Lisa Brühlmann, ihr Mann ist Dominik Locher. Zusammen machen sie Filme und Kinder. Von ihr kommt jetzt «Blue My Mind» ins Kino, von ihm in wenigen Wochen «Goliath». Sie erzählt, wie ultimativ monströs eine 15-Jährige die Veränderungen ihres Körpers in der Pubertät erlebt. Er, wie ein werdender Vater an Körpermasse zulegt, um zum Beschützer von Frau und Kind zu werden, und sich statt dessen in ein Monster verwandelt.
Es sind zwei sehr private Filme über Identitätsfindungen auf dem Schlachtfeld des Körpers geworden. Zwei intensive, spannende, aussergewöhnlich konsequente Filme. So, wie die Geschichte von Lisa und Dominik immer schon konsequent war. Als er sie sah und sagte: «Komm mit mir nach Hollywood.» Und sie darauf antwortete: «Aber bis in einem Jahr will ich das erste Kind.» Viel Drama, sagt sie, sei dann noch im Spiel gewesen, «aber gerade Drama macht ja die Romantik umso grösser.»
Und wie fühlt ihr euch so, als Traumpaar des Schweizer Films? «Das hast jetzt du gesagt!» Okay, man könnte hier als Antwort auch einfach Lisas riesiges Strahlen zwischen die Zeilen stellen. Aber wie kommt eine jetzt auf die Idee mit der Meerjungfrau? Wegen Andersens traurigem Märchen, in dem eine Nixe ihr Meer und ihren Fischschwanz opfert, um vielleicht die Liebe eines Prinzen zu erlangen und zur Strafe stirbt?
Klar war das Märchen wichtig, sagt Lisa, als Kind habe sie es geliebt und war fasziniert von den Fabelwesen aus der griechischen Mythologie, von Odysseus und seinen todbringenden Sirenen. Aber auch die Erinnerung an die eigene Pubertät spielte hinein, die Scham über die Veränderung, die Angst, all die Wut, das Fremdwerden des eigenen Körpers.
Kaum hatte sie sich entschieden, seien die Nixen plötzlich aus allen möglichen Löchern gekrochen: Bei Disney gibt’s Arielle, in «Pirates oft he Caribbean» schwadern sie rum, Nixenschwimmkurse sind im Angebot. Wenn man die romantische Tragik von Andersen von den Wasserfrauen wegnimmt, sagt Lisa Brühlmann, bleibt was sehr Starkes, Ursprüngliches, Lustvolles und vor allem Freies. «Und deshalb dachte ich, man kann das alles auch neu kodieren.» Ja, klar, gerne!
Bevor sie Regisseurin wurde, war Lisa Brühlmann Schauspielerin. Hatte eine grosse Rolle in der SRF-Arztserie «Tag und Nacht», die nach nur einer Staffel abgesetzt wurde. Lisa Brühlmann spielte damals die Praxisassistentin Connie. Was waren wir Fans von Connie, wir wenigen, die «Tag und Nacht» treu ergeben waren ...
Vielleicht war die Serie zu früh für ihre Zeit, zu ungemütlich und kühl für die Schweizer Serienkonsumenten, die damals noch nicht an depressive Serien aus dem düsteren Norden gewöhnt waren. Vielleicht könnte man sie jetzt noch einmal zeigen? Wegen Connie? Und wegen der Psychologiestudentin Sophie, gespielt von einer Sarah Bühlmann, die heute Sarah Spale heisst und gerade in der Hauptrolle in «Wilder» triumphiert? Na, wie wär’s? Connie hätte damals noch Entwicklungsmöglichkeiten gehabt, «sie war zum Beispiel ein verstecktes Schachgenie».
Dominik Locher ist 35, Lisa Brühlmann 36 und Sarah Spale 37. Sie sind die neue Generation, die gerade mit grossem Selbstbewusstsein starke Gesichter und Geschichten ins Schweizer Film- und Serienschaffen pumpt, die Erzählungen werden kühner, die Dialoge verlieren das helvetisch Überausführliche, Geheimnisse sind geheimnisvoll und werden nicht sofort verplappert.
Und Dinge sind möglich und sehr realistisch, die es gar nicht gibt. Zum Beispiel krasse Meerjungfrauen. So krass, dass sich Lisa Brühlmann jetzt fragt, ob sie den beteiligten Teenies beim Dreh nicht einfach eine Betreuungsperson hätte aufzwingen sollen. Denn sie selbst hatte dafür bei aller Liebe nicht allzu viel Zeit. «Manchmal musst du dich als Regisseurin einfach unbeliebt machen. Schliesslich willst du, dass der Film gut wird.»
Okay, die Teenies haben keinen Schaden genommen. Die Jungs sind im Film eh viel nackter als die Mädchen. Und die Mädchen gar nicht so anders als die Jungs – «die Mädchen in meinem Film schauen auch Pornos, die sind genau so neugierig.». Alles ist gut. Nein, grossartig! Ein Kraftprotz von einem Schweizer Film- und Seriennovember ist geboren – jünger, wilder, härter.
«Blue My Mind» läuft ab 9. November im Kino, «Goliath» startet am 30. November, «Wilder» läuft immer dienstags um 20.05 Uhr auf SRF 1.