10'015 Frauen liessen im Jahr 2017 in der Schweiz ein Kind abtreiben. Das sind 10'015 Abtreibungen zu viel, findet der christliche Verein «Marsch fürs Läbe». Heute Mittag überreicht der Verein die Petition «Abtreibungsfolgen öffentlich machen» in Bern der Landesregierung.
Gut 24'000 Unterzeichnende fordern mit dem Schreiben eine Neuausrichtung der Abtreibungspolitik in der Schweiz. Spitäler und Beratungsstellen würden einseitig informieren und die «Schattenseiten der Abtreibungen» verharmlosen, finden die Petitionäre. Deshalb sollen die Behörden Schulen und Universitäten dazu auffordern, die «schmerzlichen Folgen» von Abtreibungen verstärkt zu thematisieren. Der Bundesrat soll die Diskussion über das Thema in den Medien «proaktiv beeinflussen».
In Fachkreisen löst der Vorstoss Kopfschütteln aus. Die Stiftung «Sexuelle Gesundheit Schweiz» verweist auf die 75 Beratungsstellen, bei denen jährlich rund 11'000 Betroffene betreut werden. Geschäftsleiterin Barbara Berger sagt: «Die Petition ist ein Versuch einer fundamentalen Gruppe, die Fristenregelung auszuhebeln und die Frau zu entmündigen.» Das Schreiben suggeriere, dass Frauen vor sich selbst geschützt werden müssten.
Andrea Weber, Geschäftsführerin des Schweizerischen Hebammenverbandes, betont: «Die mir bekannten Beratungsstellen sind darauf bedacht, den Betroffenen wertfreie Hilfe anzubieten. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Frau dazu gedrängt wurde, abzutreiben.» Weber verweist auf die Abtreibungsquote in der Schweiz (mit 6,2 Abtreibungen pro tausend Frauen eine der niedrigsten weltweit), die dank der guten Aufklärung an Schulen, durch Fachpersonen und im Netz seit Jahren sinke.
«Die Panikmacherei, die mit dieser Petition betrieben wird, bringt nichts. Im schlimmsten Fall löst sie bei Betroffenen sogar ungerechtfertigte Ängste aus», sagt Weber.
Auch Sibil Tschudin, leitende Ärztin an der Frauenklinik am Universitätsspital Basel, findet den Fokus der Petition völlig falsch. «Es ist nicht unsere Aufgabe, Frauen davon zu überzeugen, eine Schwangerschaft auszutragen, wenn sie sich nicht dazu in der Lage fühlen.» Eine wissenschaftliche Debatte, wie sie sich die Petitionäre wünschen, sei nötig, die in der Petition erwähnte Studie aber wenig aussagekräftig, betont Tschudin.
Die Petitionäre stützen sich auf die Erkenntnisse der amerikanischen Forscherin Priscilla Coleman, die schreibt, Frauen hätten nach einer Abtreibung ein um 81 Prozent erhöhtes Risiko für eine psychische Krankheit. In zehn Prozent der Fälle sei die Abtreibung die direkte Ursache für die Probleme. Gynäkologin Tschudin bezweifelt das. Den Petitionären aber liefert die Studie Munition für ihren politischen Kampf.
Ein nicht ungefährlicher Kampf, findet Sektenexperte Hugo Stamm. Die Petition sei beispielhaft für den erstarkenden politischen Aktivismus christlicher Fundamentalisten in der Schweiz. Stamm verweist auf die christlich-konservative Stiftung Zukunft CH, die entscheidend am Zustandekommen der Abtreibungs-Petition mitgewirkt hat und regelmässig nach schärferen Abtreibungsgesetzen und weniger Toleranz gegenüber dem Islam ruft.
Die Stiftung habe eine «erhebliche Schlagkraft» entwickelt, sagt Stamm. Ihr politisches Potenzial beruhe auf der Unterstützung zahlreicher Freikirchen mit Zehntausenden Gläubigen. Neu sei das Phänomen zwar nicht, dass sich fundamentalistische christliche Organisationen in den politischen Diskurs einmischten. «Zurzeit sind sie aber so aktiv wie selten zuvor», sagt Stamm.
Präsidiert wird die Stiftung Zukunft CH von Michael Freiburghaus. Der 32-Jährige arbeitet in der Kirchgemeinde Leutwil-Dürrenäsch als reformierter Pfarrer und will sich mit seiner Stiftung für eine «christliche Renaissance» in der Schweiz einsetzen. Freiburghaus spricht von einer verbreiteten «Kultur des Todes» und meint damit die liberale Haltung vieler Zeitgenossen zu Themen wie Sterbehilfe oder Abtreibung. «Das Leben wird bereits im Bauch der Mutter angegriffen, das ungeborene Kind ist konstant bedroht», sagt er. Die eigenen Kinder seien aber die Zukunft des Staates und die Geburtenrate von Schweizerinnen auch ohne Abtreibungen schon kleiner als jene der muslimischen Familien in der Schweiz. Der Aargauer Pfarrer verweist dafür auf Erhebungen, die Zukunft CH für den stiftungseigenen Newsletter «Infodienst» gemacht hat.
Freiburghaus wagt sich mit seinem Doppelengagement als Pfarrer und als «Zukunft CH»-Präsident auf heikles Terrain. Das reformierte Magazin «bref» warf jüngst die Frage auf, ob ein Vertreter einer Landeskirche überhaupt politisch aktiv sein dürfe. «Das Evangelium selbst ist sehr politisch», entgegnet Freiburghaus. «Und ich setze mich mit Herzblut für das Evangelium ein.» Ob Bundesbern offene Ohren für diese Art des Politisierens hat, wird sich zeigen. (aargauerzeitung.ch)