Eine transparente Schutzbrille vor den Augen, gelbe Stöpsel in den Ohren, die Hände in Arbeitshandschuhen. Pechschwarze Haarsträhnen haben sich aus seiner nach hinten gekämmten Frisur gelöst und tanzen vor der Stirn. Ramazan Nuri zurrt das Metallstück fest und setzt mit konzentriertem Blick die Schneidmaschine an. Irgendwo wird gehämmert, in der Luft hängt der Geruch von frisch gesägtem Holz.
Die grosse Industriehalle der Farbik 1 im Zürcherischen Buchs ist lichtdurchflutet. In hohen Gestellen sind meterlange Holzplatten aufeinandergestapelt. Geschäftig stehen Mitarbeiter hinter grossen Maschinen, um aus einzelnen Teilen ganze Mobiliare anzufertigen, die dann teuer verkauft werden. Es ist die Produktionsstätte der zwei Schweizer Möbelunternehmen Tossa und Thut Möbel, die hier ihre Designerstücke herstellen. Seit diesem Sommer absolviert hier Nuri eine Flüchtlingslehre.
Das Konzept dieser speziellen Lehren lancierte der Bundesrat als Pilotprojekt vor drei Jahren. Damals flüchteten Tausende über die Balkanroute nach Deutschland und auch in die Schweiz. Der Bund begann, über neue Integrationskonzepte nachzudenken. Mit den Flüchtlingslehren erhofft er sich, dass die neu Zugezogenen schneller einen Job finden und nachhaltig in die Berufswelt eingebunden werden. Im August startete das vorerst auf vier Jahre angesetzte Projekt. In 18 Kantonen wurden 900 Lehrplätze für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt.
Dass Nuri einen Platz in diesem Programm erhielt, ist für ihn keine Selbstverständlichkeit. «Ich hatte Glück», sagt er. Er ist einer von knapp 40'000 Afghanen, Syrern, Eritreern oder Irakern, die 2015 in die Schweiz gelangten und ein Asylgesuch stellten. Der heute 21-Jährige floh mit seiner Familie aus seiner Heimatstadt Kabul in Afghanistan in den Iran. Von dort aus machte er sich alleine auf den Weg in die Türkei. Was danach folgte, sind traurige Geschichten, die bereits zu Hunderten erzählt wurden. Sie handeln von gefährlichen Bootsfahrten, von aufgedunsenen Leichen, die es an den Strand griechischer Inseln treibt, von unhaltbaren Zuständen in Idomeni, von beschwerlichen Wegen über Mazedonien, Serbien und Ungarn. Im Winter schliesslich überquerte Nuri die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz.
Er wurde in einer Containersiedlung in Buchs (ZH) untergebracht. Schwierig sei gewesen, beim Warten auf den Asylentscheid nicht in einen lethargischen Zustand zu fallen, sagt Nuri. «Andere Bewohner haben den ganzen Tag im verdunkelten Wohnzimmer gesessen und geraucht.» Er aber versuchte, seinem Alltag eine Struktur zu geben, besuchte gratis Deutschkurse in der Autonomen Schule in Zürich, ging mehrmals in der Woche ins Judotraining.
Christian Lüber von der Fabrik 1 stellte im Frühling dieses Jahres fest, dass eine zusätzliche Hilfskraft im Betrieb gebraucht wurde. Weil das Unternehmen erst vor Kurzem nach Buchs zog und in der Region noch wenig verankert war, fragte er bei der örtlichen Gemeinde an, ob man ihm eine geeignete Person vermitteln konnte. Der Name Ramazan Nuri fiel. Wenige Tage später stand Nuri bereits im Einsatz und unterstützte das Team bei kleineren Arbeiten.
«Schnell merkten wir, dass wir ihn auch längerfristig behalten und ausbilden wollen», sagt Lüber. In der Zeitung las er von den Flüchtlingslehren und meldete sich für das Projekt an. «Für Ramazan ist es perfekt. Er lernt das duale Bildungssystem der Schweiz kennen, erhält bei uns eine Ausbildung und geht einmal in der Woche in die Schule, wo er sein Deutsch verbessern kann.»
Nuri hat inzwischen den F-Ausweis bekommen. Das heisst, vorläufig darf er in der Schweiz bleiben. Sein Status wird aber jährlich überprüft. Seit einer Gesetzesänderung, welche die Stimmbevölkerung im Juli an der Urne gutgeheissen hat, erhalten vorläufig Aufgenommene im Kanton Zürich nur noch Asylfürsorge. Dieser Betrag fällt um einiges geringer aus als die Sozialhilfe, die sie zuvor erhalten haben. Nebst den 400 Franken Lohn erhält Nuri also 300 Franken Asylfürsorge. Die Miete und das Zugbillet, das er benötigt, um nach Zürich in die Schule zu kommen, bezahlt die Gemeinde.
Lüber sagt: «Nuri lernt nicht nur von uns. Seit er hier ist, haben wir auch viel von ihm erfahren. Wir wissen jetzt besser, was es heisst, Flüchtling zu sein.» Als er noch in der Containersiedlung wohnte, habe er über den Lärm geklagt, dass er sich beim Lernen nicht konzentrieren und nachts schlecht schlafen könne. Die Fabrik 1 half ihm daraufhin, eine Wohnung zu suchen. Heute wohnt Nuri in einer Einzimmerwohnung in der Nähe der Fabrik 1.
«Natürlich ist es ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Lüber. Wir unterstützen hier einen Einzelnen, aber nötig hätten es Tausende. Immerhin habe aber zumindest Nuri so eine Perspektive erhalten. «Wir wollen ihn auch nach der Flüchtlingslehre behalten», sagt Lüber. Der Plan sei, dass er im Sommer 2019 eine Attest-Lehre machen kann. Diese daure weitere zwei Jahre. Danach könne er das eidgenössische Fähigkeitszeugnis machen. Einziges Fragezeichen ist für Lüber der Aufenthaltsstatus von Nuri: «Die Angst, dass man ihm plötzlich die Bewilligung entzieht, schwebt wie eine Drohgebärde ständig über Ramazan und auch über unserem Team.»
Nuri setzt sich hinter das Steuer des Gabelstaplers, dreht das Lenkrad routiniert und setzt das Gefährt in Bewegung. «Eigentlich bin ich ja Schneider», sagt er. In Afghanistan habe er vor allem Kleider für Frauen genäht. Er mochte das Handwerk und kommt er dazu, so schneidert er auch heute noch. Das Schreinern mag Nuri ebenso. Die Arbeit mit Holz, das Schleifen von Tischen, das Verleimen von Schubladen. «Und besonders gerne fahre ich mit dem Gabelstapler», sagt er und tätschelt das Lenkrad mit der flachen Hand.
Wo er sich in Zukunft sieht, kann Nuri
nicht sagen. «Das entscheidet zuletzt die Politik.» Aber er
träumt von einer Perspektive in der Schweiz, von einem guten Job und
einem ruhigen Leben. Das ist alles, was er will.