Andreas Santoni wollte Pfarrer werden. Schon damals, als er als kleiner Junge seiner Grossmutter half, auf dem Friedhof die Gräber zu machen. Er hat zu den Pfarrern hochgeschaut, sie bewundert. Auch später, als er wegen Schwierigkeiten in der Schule ins Kinderheim St. Benedikt in Hermetschwil kam. Er spielte den Pfarrer, hielt Predigten. «Der Fussballpokal war mein Kelch», erzählt er.
Andreas Santoni ist nie Pfarrer geworden. Der damalige Pfarrer im Kinderheim hatte ihn sexuell missbraucht. Die Bilder verfolgen ihn bis heute. «Es ist schwer, damit zu leben.» Was genau der Pfarrer ihm als neun- und zehnjähriger Junge angetan hat, weiss nur Andreas Santoni. «Ich kann nicht darüber sprechen. Ich habe auf die Bibel geschworen, dass ich nichts sage.»
Nichts sagen. Schweigen. Verschweigen. Das will Andreas Santoni 40 Jahre später nicht mehr. Er macht den Schritt an die Öffentlichkeit, lässt alle wissen, dass er damals zwischen 1978 und 1981 als Schüler im Kinderheim Hermetschwil sexuell missbraucht wurde.
Vom Pfarrer. Jener einzigen Bezugsperson, die da war für die Heimkinder. Ihnen die fehlende Liebe und Geborgenheit hätte geben sollen und sie stattdessen missbrauchte. Mit seinem Schritt an die Öffentlichkeit zwingt Andreas Santoni zum Hinschauen, um Wegschauen in Zukunft zu verhindern.
Eingeladen hat die Medien aber nicht Andreas Santoni, sondern das Kinderheim Hermetschwil und das Benediktiner-Kollegium Sarnen. Sie wollen, obwohl der Missbrauch verjährt und der Pfarrer tot ist, die Sache nicht verschweigen. Sie wollen sich öffentlich entschuldigen (siehe Box unten). Bei Andreas Santoni und allen anderen Opfern. Ihnen sagen: «Der Täter ist schuld.»
Diesen Satz hat Andreas Santoni schon unzählige Male gehört. Trotzdem gibt er sich für den Missbrauch immer noch selber die Schuld. «Ich ging ja immer wieder zum Herrn Pfarrer, obwohl das passiert ist. Und ich fühle mich auch schuldig, weil ich mich nicht gewehrt, nichts gesagt habe.» Er hat den Missbrauch für sich behalten, hat die schlimmen Bilder verdrängt, versucht, zu vergessen. «Ich war der Meinung, ich hätte das hinter mir», sagt er.
Bis die aufgebaute Schutzmauer an der Beerdigung seiner Mutter zu bröckeln begann. «Der Pfarrer hielt die Messe und ich sah ihn plötzlich nackt. Aber nicht ihn, sondern den anderen Pfarrer», sagt Andreas Santoni.
Doch selbst mit diesen Bildern im Kopf dauerte es ein weiteres Jahr, bis er seiner Frau zum ersten Mal vom Missbrauch in der Kindheit erzählte. Einen Tag später wollte er sich das Leben nehmen. Vor dem Kinderheim. Die Polizei konnte ihn stoppen.
Seither macht Andreas Santoni eine Therapie, um die traumatischen Erlebnisse von damals aufzuarbeiten. Er mache Fortschritte, sagt er. Doch nach wie vor plagt ihn seine Depression. «Ich falle immer wieder in die schlimme Vergangenheit zurück.»
Kontakt zu Personen aus dieser Zeit hat er nicht mehr. Sie waren zu viert in einem Zimmer, sagt Andreas Santoni. Vier Jungen. Zwei seien früh an Drogen gestorben, der Dritte lebe auf der Strasse, sei in der ganzen Schweiz unterwegs. Mit ihm hatte Andreas Santoni den Kontakt gesucht. Er versuchte auch, über die Vorfälle im Heim zu sprechen, wollte wissen, ob ihm das Gleiche passiert ist. Doch der ehemalige Zimmerkollege packte ihn am Kragen, sagte, das Thema sei tabu.
Am Ende der Medienkonferenz wirkt Andreas Santoni ausgelaugt. Über den erlebten sexuellen Missbrauch zu sprechen hat ihn mitgenommen. Er überlegt lange, wie er sich nun fühlt. Es seien viele Gefühle in ihm, die er nicht zuordnen könne. Auch alle Bilder von damals seien da. Er könne nicht sagen, dass er erleichtert sei. «Ich bin froh, dass ich es sagen konnte. Aber ich habe Angst davor, was noch kommt.»
Er fühle sich auch als Judas, weil er gesagt hat, was der Pfarrer mit ihm gemacht hat, obwohl er damals als Kind auf die Bibel geschworen hatte, nichts zu sagen. Es sei ihm mit dem Schritt an die Öffentlichkeit aber auch um alle anderen Opfer gegangen. Andere Opfer, die sich das nicht trauen. Andere Opfer, die gar nicht mehr sprechen können, weil sie nicht mehr leben.
Genauso wie der Pfarrer. Ihn hat Andreas Santoni nie mehr gesehen. Seine Fragen an ihn bleiben für immer ohne Antwort. (aargauerzeitung.ch)