Der Mann ist arbeitsunfähig, sozial isoliert, kann sich nicht konzentrieren, scheut den Blickkontakt, gibt sich wortkarg und apathisch. Ein Überwachungsvideo entlarvt die Beschwerden, die mehrere Ärzte bestätigt hatten, als Erfindung. Der Mann bewegt sich gekonnt auf Baugerüsten, tauscht sich rege mit Arbeitskollegen aus.
Ein zweiter Film eines Sozialdetektivs zeigt ein ähnliches Bild. Der Arbeiter geht in die Hocke, läuft agil über Baugerüste, malt Wände. Dabei leidet er angeblich unter grossen Schmerzen an Schulter, Rücken und Knie, kann nur während dreier Stunden pro Tag als Magaziner arbeiten. Gemäss dem Observationsbericht rackerte sich der Mann jedoch bis zu elf Stunden an einem Tag auf der Baustelle ab.
So funktioniert Versicherungsmissbrauch! Andreas Dummermuth, Geschäftsführer IV-Stelle Schwyz, kommentiert in der Rundschau vom 7.11. ein Praxisbeispiel. Darum braucht es eine gesetzliche Grundlage für Observation. #ATSG #Sozialdetektive #abst18 @CVP_PDC @FDP_Liberalen pic.twitter.com/heUBn5afUS
— Sozialdetektive JA (@Sozialdetektive) 11. November 2018
Beide Überwachungen erfolgten im Auftrag einer IV-Stelle. Seit Mitte des letzten Jahres dürfen die Sozialversicherungen aber keine Detektive mehr losschicken. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte taxierte die gesetzliche Grundlage als ungenügend. Am 25. November stimmt das Volk über ein revidiertes Gesetz ab, welches die Überwachung von mutmasslichen Betrügern neu regelt.
Eine Überwachung kostet rund 10'000 bis 20'000 Franken. Doch das lohnt sich. Allein in den beiden erwähnten Fällen spart die IV je eine halbe Million Franken – wenn man davon ausgeht, dass die Betroffenen bis zum Erreichen des AHV-Alters eine IV-Rente bezogen hätten.
«Ohne Überwachungsvideos sind die IV-Stellen auf einem Auge blind», sagt Andreas Dummermuth, Direktor der Ausgleichskasse Schwyz und Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen (KKAK), der uns die Videos zur Verfügung gestellt hat. Nicht nur aus finanziellen Gründen hält Dummermuth das neue Gesetz für unentbehrlich. «Ich befürchte, dass bei einem Nein die unselige und unterdessen verstummte Scheininvalidendebatte neu aufflammt», sagt er.
Zur Erinnerung: Im Sommer 2003 führte SVP-Vordenker Christoph Blocher den Begriff «Scheininvalidität» in die Kontroverse über die steigende Zahl der IV-Bezüger ein. Der Begriff vergiftete die Diskussion über die IV über Jahre.
Ohne den Einsatz von Detektiven müssten sich die Sozialversicherungen beim Rentenentscheid ausschliesslich auf medizinische Berichte stützen. Für Dummermuth genügt das nicht: «Erst die Überwachung erlaubt es, den ungerechtfertigten Leistungsbezug zu stoppen.» Dass die Ärzte Simulanten manchmal nicht erkennen, wirft ihnen Dummermuth nicht vor. «Es gibt keine Schmerzmesser, sie können auch nicht in den Kopf ihrer Patienten schauen.»
Über Videos, die zur Aberkennung von IV-Renten führten, berichtete in ihrer letzten Ausgabe auch die SRF-Sendung «Rundschau». Daniel Graf vom Referendumskomitee «Versicherungsspione Nein» warf der «Versicherungslobby» vor, sie setze auf «pure Emotionen». Er sei nicht gegen Observationen. Sie müssten aber rechtsstaatlich wasserdicht sein, und das Gesetz dürfe nicht Tür und Tor für willkürliche Überwachungen öffnen.
Grafs Mitstreiter Dimitri Rougy hält die Videos und Dummermuths Warnung vor einer neuen Scheininvalidendebatte für ein Ablenkungsmanöver. «Das zeigt, dass die Befürworter keine Argumente haben», sagt er. Das Gesetz sei schlampig formuliert. «Mit einem Nein geben wir dem Parlament den Auftrag, rechtsstaatlich saubere Paragrafen zu formulieren, die nicht die Grundrechte beschneiden und Rechtsprofessoren die Haare zu Berge stehen lassen», sagt Rougy. Das Gesetz biete den Sozialversicherungen Hand für Machtmissbrauch.
Dummermuth verteidigt die Publikation der Überwachungsvideos. «Das Volk muss sich in voller Kenntnis der Fakten ein Bild machen können», sagt er. Der KKAK-Präsident betont, die IV-Stellen würden Überwachungen nur als Ultima Ratio einsetzen und wenn sie klare Anhaltspunkte auf einen missbräuchlichen Leistungsbezug hätten. Oft stammten Hinweise von Nachbarn. «In einem Fall sahen Nachbarskinder eine angeblich an den Rollstuhl gefesselte Person beim Schneeschaufeln», sagt Dummermuth.
Dank Observationen sparten die IV-Stellen in den Jahren 2010 bis 2016 insgesamt 170 Millionen Franken. In diesem Zeitraum wurden 1050 IV-Bezüger observiert, in 500 Fällen bestätigte sich der Verdacht. Pro Jahr geraten weniger als ein Promille der rund 220 000 IV-Bezüger ins Visier der Detektive. (aargauerzeitung.ch)