Die meisten Menschen wünschen sich eine Welt frei von Verbrechen. Dennoch übt Kriminalität eine grosse Faszination auf uns aus. Wie gross diese ist, zeigt der Erfolg der Fernsehsendung «Aktenzeichen XY ... ungelöst». Seit genau 50 Jahren unterhält das Format Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit tatsächlich passierten Verbrechen und hilft der Polizei bei deren Aufklärung.
Der allererste Fall flimmerte am 20. Oktober 1967 über die Bildschirme. Anderthalb Jahre später, ab Sendung Nummer 13, beteiligte sich auch die Schweiz am Format. Der damalige Schweizer Moderator Werner Vetterli sagte einst in einem Rückblick zum Schweizer Fernsehen.
Insgesamt berichtete die Sendung über 463 Schweizer Kriminalfälle. 47,5 Prozent davon konnten letztendlich aufgeklärt werden. Teils dank Hinweisen der Zuschauer.
Blicken wir zurück auf 50 Jahre «Aktenzeichen XY ... ungelöst »– in 6 brisanten Schweizer Fällen.
Ab 1969 hing ein zweiter Bildschirm im Aktenzeichen XY-Studio. Denn neu beteiligte sich neben dem ORF auch das Schweizer Fernsehen an der Produktion des ZDF. Und in der ersten Folge mit Schweizer Beteiligung durfte natürlich eins nicht fehlen – genau – der erste Schweizer Fall. Der Fall von Georg G., der damals die Luzerner Kantonspolizei auf Trab hielt.
2. August 1968: Vier Italiener sind gerade dabei, ihre Koffer für die Ferien zu packen, als die Tür zu ihrer Gastarbeiterwohnung in der Stadt Luzern ruckartig aufgestossen wird. «Kriminalpolizei», ruft der Mann laut Fernsehbeitrag, der mit einer Pistole bewaffnet ist. «Alle an die Wand. Avanti, avanti.» Eingeschüchtert folgen die Italiener den Anweisungen. Was sie nicht wissen: Der Beamte, der sie nun nach Waffen absucht, ist in Tat und Wahrheit gar kein Kriminalpolizist, sondern der Betrüger Georg G., der ihnen ihre Portemonnaies abnimmt und sich mit einer Beute von 260'000 Lira (damals 1759 Schweizer Franken und 40 Rappen) aus dem Staub macht.
Einige Tage später überfällt Georg G. seine frühere Wohnungsvermieterin. Er knebelt die 83-Jährige, sperrt sie in ihr Badezimmer und durchsucht anschliessend ihre Wohnung nach Wertsachen. Er flüchtet mit einem goldenen Siegelring und Bargeld.
Der dritte Versuch von G. in Luzern an Geld zu kommen, geht schief. Er verschickt im Namen einer Berner Bank ein Telegramm an die Bank in Rothenburg, mit der Anweisung Georg G. 20'000 Franken auszuhändigen. Doch diese ist aufmerksam, kommt dem Betrüger auf die Schliche und alarmiert die Polizei. Doch Georg G. entkommt.
Wenig später tritt er in Bonn in Erscheinung, als er verkleidet als falscher Kriminalpolizist erneut Gastarbeiter überfällt. «Scheint seine neue Masche zu sein», erklärt ein Beamter der Luzerner Kantonspolizei im Schweizer Studio von «Aktenzeichen XY». Der Beamte fährt fort: «Es handelt sich hier um einen typischen internationalen Verbrecher, der dauernd seinen Aufenthalt wechselt.»
Drei Monate nach der Ausstrahlung erkennt ein Zuschauer Georg G. in einer Augsburger Gaststätte. Er alamiert die Polizei. Als die Polizisten eintreffen, weist G. gefälschte Dokumente vor und leistet heftigen Widerstand, als die Polizisten ihn verhaften.
«Autostopp ist und bleibt eine gefährliche Angelegenheit. Der Tramper liefert sich einer völlig fremden Person aus», warnte ein Vertreter der Kantonspolizei Thurgau im Januar 2000 in «Aktenzeichen XY ... ungelöst». Der Polizist war wegen Heidi Scheuerle zu Gast in der Sendung, die drei Jahre zuvor spurlos verschwunden war, am 8. Oktober 1996.
Die damals 26-jährige Journalismus-Praktikantin ist von Kreuzlingen auf dem Weg an einen Termin in Basel. Dazu nimmt sie nicht den Zug, sondern sie entscheidet sich per Anhalter zu reisen. Ein Autofahrer, der auf dem Weg nach Zürich ist, nimmt sie mit bis auf die Raststätte Forrenberg. Danach verliert sich ihre Spur.
«Wir wollen nichts unversucht lassen, doch noch Licht hinter das Verschwinden von Heidi Scheuerle zu bringen», so die Erklärung des Kapo-Vetreters, warum die Polizei drei Jahre nach dem Verschwinden nochmals die Öffentlichkeit um Hilfe bittet.
Seit Frühjahr 2002 steht fest: Heidi Scheuerle ist tot. Damals konnten die Ermittler menschliche Überreste, die zwei Jahre zuvor in einem Wald in Spreitenbach gefunden wurden, der jungen Frau zuordnen.
Die Umstände ihres Todes konnte die Polizei bis heute nicht klären. Die Kantonspolizei Aargau, die mittlerweile für den Fall zuständig ist, hat für Hinweise, die zur Ergreifung der Täterschaft führt, weiterhin eine Belohnung von bis zu 50'000 Franken ausgesetzt.
«Kaum ein Verbrechen bewegt die Öffentlichkeit derart wie der Mord an Kindern.» Mit diesem Satz leitet der Moderator 1988 einen Filmbeitrag über zwei Aargauer Kinder ein, die beide bei Volksfesten entführt und anschliessend ermordet wurden. Der 7-jährige Daniel 1985 in Rümlang und 1987 der 10-Jährige Christian in Windisch. Beide werden später tot gefunden.
Die beiden Fälle würden Parallelen aufweisen, sagt der Moderator während der Sendung. Es sei möglich, dass es sich um ein und denselben Täter handle. Er sollte recht behalten.
Noch während der Live-Sendung meldet sich eine Frau bei «Aktenzeichen XY ... ungelöst». Es handelt sich um die Mutter eines Buben, der 1971 ebenfalls von einem Fest entführt und getötet wurde. Der Täter damals: Werner Ferrari, der für diese Tat zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. 1979 kam er vorzeitig wieder auf freien Fuss.
Die Aargauer Kantonspolizei nimmt den Hinweis der Mutter auf und setzt Ferrari auf die Liste der Verdächtigen. Doch da die Beamten ihn nicht auffinden können, wird er auch nie befragt. Zwei Jahre später wird Werner Ferrari wegen eines Mordes an einem Mädchen aus dem Kanton Solothurn verhaftet. Es stellt sich heraus: Er ist auch der Mörder von Daniel und Christian.
Als eine Schweizer Postbeamtin frühmorgens an ihrem Arbeitsplatz im thurgauischen Mettlenstehen eintrifft, wird sie bereits erwartet. Von einem Einbrecher, der in der Nacht daran gescheitert ist, das Sicherheitsschloss aufzuknacken.
Er bedroht die junge Postbeamtin mit einer Pistole und zwingt sie, den Tresor zu öffnen. Darin befinden sich Bargeld und Wertsachen in der Höhe von 50'000 Franken. Obwohl der Dieb somit bekam, was er wollte, schiesst er mehrmals von hinten auf die Postbeamtin. Sie stirbt.
Es sei einer jener Fälle, die man auch nach längerer kriminalistischer Praxis nicht begreifen kann, sagt der Moderator in der Sendung von 1996 zum Publikum, als er über den hinterhältigen Mord berichtet. «So sehr man sich auch das Hirn zermartert, man weiss nicht warum.»
Die «Aktenzeichen XY .... ungelöst»-Folge führte auch nicht zur Aufklärung des Falles. Einige Jahre später löste die Polizei den Fall doch noch. Der Haupttäter wurde vom Bezirksgericht Weinfelden zu einer Zuchthausstrafe von 19 Jahren verurteilt, sein Komplize zu 15 Jahren.
Am 21. Dezember 2015 werden in Rupperswil vier Menschen getötet. Als die Aargauer Kantonspolizei auch Monate später den Täter noch nicht gefasst hat, entscheidet das ZDF in Absprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft und der Polizei, einen zehnminütigen «Aktenzeichen XY»-Beitrag zu produzieren.
Die meisten Dreharbeiten fanden in Deutschland statt, für einige Aufnahmen kam die Filmcrew aber auch ins aargauische Rupperswil. Das Aussergewöhnliche: Der Beitrag wurde nie im Fernsehen ausgestrahlt.
Mutmasslich geklärt, muss man hierzu sagen. Der gefasste Thomas N. ist zwar geständig, doch bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.
Am 8. Juni 2016 hätte der Beitrag im Fernsehen ausgestrahlt werden sollen, doch am 12. Mai 2016 wird der Verdächtige Thomas N. in Aarau gefasst. Einige Tage nach der Festnahme richtet die Pressesprecherin der Produktionsfirma aus, dass man nach Absprache mit der Aargauer Staatsanwaltschaft und der Polizei eine Ausstrahlung nicht mehr für nötig halte.
Eigentlich hat dieser Fall rein gar nichts in einer Aufzählung von brisanten Fällen verloren. Doch ich erinnere mich selber an keinen anderen Fall so gut, wie an diesen. Damals war ich zehn Jahre alt und sass zum ersten Mal bei «Aktenzeichen XY ... ungelöst» vor dem Fernseher. Das hatte seinen Grund.
Im Frühling 1998 wird ein kleines Juwelier-Geschäft überfallen. Im Schnellzugtempo fesseln die drei Verbrecher die Verkäuferin, räumen den Laden leer und türmen in einem Lancia mit einer Beute im Wert von 300'000 Franken. Alles innert drei Minuten.
Die Ortschaft, in der der Überfall stattfindet, beschreibt die Sprecherin als «kleine ländliche Gemeinde im Luzerner Mittelland». Es handelt sich um Reiden, der Ort an dem ich aufgewachsen bin.
So sass ich gemeinsam mit meiner Familie gebannt vor dem Fernseher und sah zu, wie die Schauspieler den Überfall nachspielten, der in meiner kleinen Gemeinde für Aufregung gesorgt hatte.
Kaum war der Beitrag zu Ende, schaltete meine Mutter auf einen anderen Kanal. Die anderen Fälle der 320. Folge durfte ich nicht mehr schauen. Schlecht geträumt habe ich dennoch.
Die Täter konnten bis heute nicht dingfest gemacht werden.