Als die Arbeiter 1918 auf die Strasse schritten statt in die Fabriken, ging es ums Überleben. Ende des Ersten Weltkrieges war das Land ausgezehrt, die Nahrungsmittel waren knapp. Mit dem tiefen Arbeiterlohn und der hohen Teuerung bedeutete dies: Hunger. Als die Unterschicht ihre Stimme erhob, ging es aber auch um ein längerfristiges Überleben: Jenes, nicht bis zum Umfallen in den Fabriken malochen zu müssen. Sie forderte eine Beschränkung der Arbeitszeit. Die 48-Stunden-Woche war die erste ihrer proklamierten Reformen, die eingeführt wurden. Das war 1919.
Seither ist die Wochenarbeitszeit geschrumpft, der Samstag gesellte sich als zweiter Tag zum Wochenende und die Anzahl Ferientage stieg an. Ohne weitere Volksaufstände. Die gut laufende Wirtschaft hat das ermöglicht und die fortschreitende Automatisierung. Statt Muskelmassen placken Roboterarme. Zudem hat sich die Schweiz von einer Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft gewandelt.
Doch trotz neuem Reichtum und Freizeit: Die Arbeit macht uns erneut krank. Zwar sind klassische Arbeitererkrankungen wie eine Staublunge verschwunden und Betriebsunfälle nehmen ab. Dafür zwingen uns heute jobbedingte Burnouts zunehmend in die Knie. «Die Schutzmassnahmen, um körperliche Belastungen einzudämmen, haben gegriffen. Doch die neuen Strukturen in der Arbeitswelt führen zu einer stärkeren psychischen Belastung», sagt Historiker Patrick Kury von der Universität Luzern. Er hat das Buch «Der überforderte Mensch» verfasst und darin die Geschichte von Stress erforscht.
Seit den 70er-Jahren ist Stress Thema im deutschsprachigen Raum. Zu jener Zeit waren die US-Forscher bereits einen Schritt weiter: Sie beschrieben das Burnout. Nicht zum ersten Mal notierten Wissenschafter eine Krankheit, die auf Erschöpfung zurückgeht. Bereits zu Zeiten des Landesstreiks gab es ein vergleichbares Phänomen: die Neurasthenie. Diese grassierte allerdings fast nur in den gehobenen Gesellschaftsschichten. Also in jenen, die nicht der Hunger plagte. Als Neurastheniker galt jemand, dessen Nerven durch äussere Einflüsse wie elektrisches Licht, die Eisenbahn – kurz die moderne Technik – überreizt waren.
Hundert Jahre später strapazieren permanente Erreichbarkeit und Mobilität unser Nervenkostüm. Diesmal ist nicht nur die Oberschicht davon betroffen. Etwa ein Viertel der Erwerbstätigen gibt in der Schweiz an, häufig oder immer Stress im Job zu haben. Ebenso viele fühlen sich erschöpft. Was ist da passiert? Historiker Kury sagt, die Jobs im postindustriellen Zeitalter seien individualisierter und kreativer; die Aufgaben viel mehr auf Projekte ausgerichtet, die Routineabläufe nehmen ab. «Heute braucht es viel mehr Anpassungsleistungen, was dazu führt, dass der Stress zunimmt», sagt Patrick Kury.
Was für Einzelne ernsthafte gesundheitliche Folgen haben kann, geht auch an der Wirtschaft nicht spurlos vorbei. Wären wir nicht so gestresst, wären wir weitaus produktiver. 5,8 Milliarden Franken gehen der Volkswirtschaft dadurch verloren, laut Gesundheitsförderung Schweiz.
Die geforderte Trias der gewerkschaftlichen und philanthropischen Kreise Anfang des 20. Jahrhunderts gewinnt somit wieder an Aktualität: Denn die von ihnen postulierten acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf rumpeln arg durcheinander, seitdem das Smartphone die Geschäftsmails auch in den Schlafzimmern oder Ferienresidenzen aufleuchten lässt. Nach der Begrenzung kommt nun die Abgrenzung.
Dafür plädiert auch der Schweizerische Versicherungsverband mit einer Kampagne «Ausschalten – Auftanken». Der Grund: Die ständige Erreichbarkeit erhöht die Unfallgefahr in der Freizeit. Und das kostet. Im Jahr 2010 schlugen die Nichtberufsunfälle in der Schweiz mit 10,4 Milliarden Franken zu Buche.
«Unsere vermeintlichen Freiheiten und die Hyperindividualisierung entwickeln sich zu einem Bumerang», sagt Historiker Kury. Er verweist auf den deutschen Soziologen Hartmut Rosa und das von ihm formulierte Paradox: Die technische Beschleunigung wirkt sich auch auf unser Lebenstempo aus. Will heissen: Statt dass wir die neu gewonnene Freizeit durch digitale Hilfe geniessen, leiden wir unter Zeitknappheit. Denn wer alle Möglichkeiten hat, kann auch viel verpassen.
Anders als 1918 geht es also in der postindustriellen Gesellschaft nicht mehr ums Überleben, sondern ums gute Leben. Ratgeber zur Work-Life-Balance füllen ganze Regalwände. Mit dem Gleichgewicht hapert es aber nach wie vor. Ein Luxusproblem? Wer an die damit verbundenen Krankheiten und deren Kosten denkt, dürfte zu einem anderen Schluss kommen. Es geht dabei nicht mehr um die reine Arbeitszeit.
Doch: Eine 50-Stunden-Woche ist zu viel und sollte höchstens ein Ausnahmefall sein, sagt der Berner Arbeitspsychologe Achim Elfering. Sonst reichen die Erholungszeiten nicht aus. Für den Bereich zwischen 30 und 40 Wochenstunden gebe es keine allgemeingültige Antwort: «Sie können nach einer 35-Stunden-Woche erschöpfter sein, als wenn sie 42 Stunden gearbeitet haben.» Das hänge von der Intensität und Qualität der Arbeit ab. Je besser Letztere sei, umso mehr schaffen wir ohne gesundheitliche Einbusse.
Konkret heisse das: Regelmässige Pausen, kein dauerhaft hoher Zeitdruck, keine einseitigen Belastungen, abwechslungsreiche Tätigkeiten und ein Handlungsspielraum, wie, wann und mit wem die Aufgaben erledigt werden. Also das Gegenteil der Fabrikarbeit Anfang des 20. Jahrhunderts. «Wenn wir – wie in Charlie Chaplins ‹Modern Times› – nur an einzelnen Rädchen drehen, erkennen wir den Sinn der Arbeit nicht», sagt Elfering. Das führe zu einer Entfremdung und wirke demotivierend. Die heutige Situation sieht der Arbeitspsychologe indes nicht rabenschwarz: «Das Bewusstsein für Stress bei der Arbeit ist gestiegen. Ebenso die Bereitschaft, etwas dagegen zu tun», sagt er.
Gewerkschafter fordern heute nicht mehr die Begrenzung der Arbeitszeit, sondern dass die Arbeitszeit auch wirklich eingehalten wird. SP-Nationalrat Corrado Pardini schlug vor, dass Geschäftsmails zwischen 19 und 7 Uhr nicht gelesen werden dürfen. Wer hätte 1918 gedacht, dass einst solche Überlegungen zur Abgrenzung angestellt werden müssen? Das erledigte damals das Fabriktor, wenn es abends hinter den Arbeitern schwer ins Schloss fiel.