Im Foyer des Bezirksgerichts Zürich, Wengistrasse 28, 10. Abteilung Staatsanwaltschaft und Zwangsmassnahmengericht, ist hinter einer Glasscheibe ein Defibrillator angebracht. Nur im Notfall zu benutzen, steht auf einem Merkzettel.
Irgendwas muss brutal schief gelaufen sein, bei der Kontrolle durch eine Patrouille der Stapo am 28. Oktober um ca. 00.45 Uhr im Zürcher Kreis 3. Wilson A., Mitte 30, vor kurzem eine Herzoperation hinter sich, Defibrillator in der Brust eingesetzt, ist mit einem Kollegen im Tram auf dem Nachhauseweg von einem Salsa-Konzert.
Gruppe UNO 45, bestehend aus den Polizisten Nadine I., Stefan B. und Gruppenführer Gerhard Z., ist an diesem Abend in einem Einsatzfahrzeug auf Patrouille. Am Stauffacher will Gerhard Z. laut Aussage im Tram der Linie 9 eine zur Fahndung ausgeschriebene Person erkannt haben – Vulpus-Meldung AG 4/3547, ein wegen Vermögensdelikten gesuchter Nordafrikaner.
Stefan B. und Nadine I. steigen an der Haltestelle Werd zu. Verlangen die Ausweise von Wilson A. und seinem Begleiter. Die beiden Männer fragen, ob sie wegen ihrer Hautfarbe kontrolliert werden. An der nächsten Haltestelle, Bahnhof Wiedikon, mitten im Kreis 3, eskaliert die Situation.
Einen solchen Einsatz hätten sie noch nie erlebt, sagen die drei Beschuldigten vor Gericht übereinstimmend.
Er sei bis heute traumatisiert, sagt Wilson A.
Den Polizisten wird Gefährdung des Lebens und Amtsmissbrauch vorgeworfen. So zumindest steht es in der Anklageschrift. Vor Gericht vollzieht die Staatsanwältin dann aber eine Kehrtwende. Die Angeklagten seien von allen Vorwürfen freizusprechen, die Beweislage zu dünn, es gebe «erhebliche Zweifel» an der Version des Geschädigten Wilson A.
Eine juristische Spitzkehre, aber nur auf den ersten Blick, das wird deutlich, wenn man in den Fall eintaucht, der sich nun seit bald neun Jahren hinzieht. Für die Ermittlungsbehörde war relativ schnell klar, dass nur unzureichende Hinweise für eine Anklage bestehen. Die Staatsanwältin stellte die Ermittlungen ein. Einmal, zweimal, der Verteidiger von Wilson A., Bruno Steiner, eine Koryphäe des Strafverteidigungswesens, lässt nicht locker, zieht alle Register. Der Anwalt verlangte zuerst ein Aussstandsbegehren, zog ans Obergericht, dann ans Bundesgericht – und bekam schliesslich Recht: Die Staatsanwältin musste eine Anklageschrift formulieren – contre cœur, wohlgemerkt.
Aber eigentlich geht es an diesen zwei prallen Frühlingstagen im April nicht um eine Gefährdung des Lebens, es geht auch nicht um Amtsmissbrauch oder Körperverletzung. Es geht – zumindest für die Privatklägerschaft – um den Vorwurf des Racial Profiling, rassistisch motivierte Polizeikontrollen. Es geht um die Frage, ob Wilson A. kontrolliert wurde, weil er schwarz ist.
Dies machen nicht zuletzt die Rahmenhandlungen dieses Prozesses deutlich. Vor dem Gebäude des Bezirksgerichts, ausgewaschene Fassade, körniger Sichtbeton, stehen am Dienstagmorgen um halb 8 Uhr circa 30 Personen mit Transparenten: «Stopp rassistische Kontrollen», «Hautfarbe ist kein Verbrechen – Stopp Polizeigewalt». Eine Mahnwache, eine Solidaritätskundgebung, ein leiser Protest gegen ein System, das Menschen mit anderer Hautfarbe diskriminiere. Unterstützer der NGO «Allianz gegen Racial Profiling» sind hier, und Leute der Autonomen Schule Zürich ASZ – und Mohammed Wa Baile, das wahrscheinlich bekannteste Gesicht der Anti-Racial-Profiling-Bewegung.
Auch im Gerichtssaal machen sich die Unterstützer von Wilson A. bemerkbar. Gut 20 Personen, alle Altersklassen, vom Kind bis zum Rentner, und alle Hautfarben sind vertreten. Fünf sogenannte «Prozessbeobachter» notieren akribisch sämtliche Äusserungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Bei gewissen Aussagen der Staatsanwältin ertönen Buhrufe aus dem Publikum, als die Beschuldigten sich bei der Befragung anschicken, Schweizerdeutsch zu sprechen, macht sich Unmut breit. Der Gerichtspräsident mahnt zur Ruhe, aber der grösste Unruhestifter sitzt ohnehin nicht im Publikum, sondern an der Seite von Wilson A.
Bruno Steiner, Verteidiger des legendärsten Schweizer Bankräubers der jüngeren Vergangenheit, Hugo Portmann, Verteidiger des Financiers Dieter Behring. Ein notwendiger Unbequemer, bescheinigen ihm wohlgesonnene Kollegen. Ein lästiger Querulant, sagen diejenigen, die ins Visier von Steiner geraten sind. Und das sind einige. Steiner hat – als Richter notabene – schon Christoph Blocher angezeigt, er lief – als Anwalt – aus Protest aus einer laufenden Gerichtsverhandlung. Der 69-jährige Steiner, so scheint es, überfordert die durchgetaktete, gut geölte, meist reibungslos funktionierende Maschinerie des Justizwesens mit seinen lustvollen juristischen Sabotageakten.
Dieser Steiner also, sitzt jetzt da, den Oberkörper in die Rückenlehne geworfen, die Faust an seine Backenknochen gepresst, dass es einem beim Zuschauen wehtut, und stiert mit einer Mischung aus Verachtung und grenzenlosem Desinteresse in den Saal. Neben ihm hält gerade die Staatsanwältin ihr Plädoyer. Steiner strahlt die Aura eines zu allem Entschlossenen aus – und er strapaziert damit die Nerven des Gerichts gehörig.
Keine fünf Minuten sind seit Prozessbeginn vergangen, da stellt Steiner ein neuerliches Ausstandsbegehren. Die Parteienvertreter und die Zuschauer werden hinausgebeten. Das Gericht muss sich beraten. Es ist der Auftakt zu einem munteren Stühlerücken. Im Lauf der zwei Verhandlungstage werden sich die Zuschauer noch ein paar Mal draussen die Füsse vertreten dürfen.
Einmal geht es um die Verfahrenssprache, dann um das rechtliche Gehör der Gegenseite, schliesslich um die Länge des Plädoyers von Steiner. Rechtliche Kunstgriffe, prozessuale Hakenschläge: Steiner zündet das ganze Arsenal an juristischen Winkelzügen.
Sein Plädoyer, das er nach intensiver Beratung durch das Gericht vollständig halten darf, wird als episch angekündigt. Und er hält Wort. In minutiöser Kleinarbeit rollt er den Fall auf, auf 450 Seiten gepresste Anschuldigungen. Im Kiefer des Gerichtspräsidenten schwingt während den Ausführungen Steiners ein Pendel hin und her, bei jedem Aufprall formt sich eine Kugel in den Wangen. Die Zeit verrinnt kläglich langsam, im Publikum zeigen sich bald einmal erste Opfer von Ermüdungserscheinungen. Mehr als sieben Stunden dauert das Plädoyer insgesamt. Eine kleine Vergeltungsaktion vielleicht auch für die ebenfalls epische Dauer des Verfahrens, oder «Prozesskaskade», wie Steiner den bald neun Jahre andauernden Streit nennt.
Privatkläger Steiner übernimmt vor Gericht die Rolle der Staatsanwaltschaft, gezwungenermassen, wie er sagt. Er klagt an, spricht von einer «Gewaltorgie», die sein Mandant über sich ergehen lassen musste, von einem Signalement, das es nicht gebe, von Schutzbehauptungen und von einem «widerlichen Geschädigten-Bashing» durch die Staatsanwaltschaft. Es handle sich bei Wilson A. um keinen Einzelfall. Das zeigten erstens die Erfahrungen seines Mandanten, der in den letzten Jahren viermal grundlos kontrolliert worden sei, und zweitens die Realität im Zürcher Kreis Cheib. Steiner zeichnet das Bild einer «eigentlichen Jagd auf Afrikaner», einer unter «Generalverdacht» stehenden schwarzen Bevölkerung, aufgrund einiger schwarzer Chügelidealer an der Langstrasse, und einer «Nullrisikomentalität», die, wie bei Wilson A., zu unzimperlichen Übergriffen führe.
Die Polizisten nennt er konsequent «Funktionäre».
Die Verteidigung hat für das Plädoyer wenig schöne Worte übrig: Als «Spekulationen, unbelegte Behauptungen, gespickt mit Rundumschlägen gegen die Polizei als Ganzes», kanzelt sie Steiners Fürsprache ab.
Den Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dass der Fall Wilson A. «politisch instrumentalisiert» werde, weist Steiner nicht von sich. Im Gegenteil. Die drei Polizisten, das sei ihm schon bewusst, seien in diesem Spiel nur Ausführende, «Bauernopfer» gar. Die wahren Verantwortlichen sässen weiter oben, in den Amtsstuben und in den weichgepolsterten Sesseln des herrschenden Machtsystems, das die Gleichung vorgegeben habe: «Schwarze Haut, weisser Stoff.»
Für die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung steht hingegen fest: «Die Polizisten machten einfach ihren Job.» Von Racial Profiling könne keine Rede sein. Und Steiner sei mit seiner Verzögerungstaktik selber Schuld, dass der Fall derart in die Länge gezogen wurde. Er habe es in der Hand gehabt, das Verfahren zu beschleunigen, sagt die Staatsanwältin. Überdies habe sein Mandant von der Verschleppung profitiert, da die Anzeige der Polizisten wegen Gewalt und Drohung mittlerweile verjährt sei.
Und Wilson A.? In einer der Gerichtspausen am Dienstag steht er etwas verloren neben den streng geometrisch genormten Skulpturen, die dem höhlenhaften Eingangsbereich des Bezirksgerichts vergeblich ein etwas schöpferischen Anstrich zu verleihen versuchen. Müde sei er, sagt er. Müde vom Prozess, müde von den Nachwirkungen des Vorfalls. Man entwickle irgendwann eine Paranoia, jedes Polizeiauto, das neben einem herfährt, werfe einem zurück in die Nacht des 19. Oktobers 2009. Der gebürtige Nigerianer, Schweizer seit einiger Zeit, wurde seinen Job im Laufe des Verfahrens los, jetzt legt er von Zeit zu Zeit als DJ auf, an Partys und an Hochzeiten vor allem. Mit seinen weissen Sneaker, offener Reissverschluss an den Seiten, dem wolfsgrauen Baumwollsweater, den Blick freigelegt auf ein blütenweisses Shirt, könnte er tatsächlich auf dem Weg zu einer Plattentaufe in einem angesagten Club sein. Um den Hals trägt er eine Goldkette, an deren Ende ein Kreuz baumelt.
Für die Anwälte der Beschuldigten ist Wilson A. kein Opferlamm. Im Gegenteil. Er habe sich von Anfang an aggressiv verhalten bei der Kontrolle im Tram, habe «veritable Bärenkräfte entwickelt», «eine wahre Kraftmaschine» mit «Unterarmen mit dem Durchmesser eines Oberschenkels». Ein anderer Verteidiger sagt im Plädoyer, ihm sei bei einem Foto von Wilson A., das kurz nach dem Vorfall geschossen wurde, der Zehnkämpfer Ben Johnson in den Sinn gekommen, zumindest aber sehe so «kein Opfer aus, das gerade erst fast zu Tode geprügelt wurde».
Er habe den Konflikt und die Eskalation selber verursacht, sagen die Verteidiger.
Er sei es Leid, ständig kontrolliert zu werden, nur wegen seiner Hautfarbe, sagt Wilson A.
Was, wenn es tatsächlich zu einer Verurteilung kommen würde, Herr Steiner? Müssten dann nicht einfach drei Polizisten den Kopf hinhalten für ein angeblich ungerechtes System – Stichwort Bauernopfer? «Das wäre tragisch», sagt Steiner mit tonloser Stimme vor dem Eingang des Gerichtsgebäudes. Sein Mitleid scheint sich in Grenzen zu halten. In Steiners Mission, das wird klar, ist personeller Kollateralschaden einkalkuliert. Sein Kampf richtet sich gegen das «System», gegen den «Filz» aus Polizei und Staatsanwaltschaft, gegen die «unverhältnismässige Gewalt», die an den «kleinen Fischen» ausgeübt wird. Von seinem Klienten verlangt Steiner kein Geld, sollte ihn das Gericht nicht entschädigen, werde er dies «mit aller Gelassenheit hinnehmen».
Können wir hier abschneiden, ruft irgendwann gegen Ende des zweiten Prozesstages ein kleines Mädchen aus dem Publikum mitten in die Replik eines der Verteidiger hinein. Es hält seinem Vater eine Zeichnung hin, Umrisse von wilden Tieren, grosszügig mit Farbstiften ausgemalt. Der Gerichtspräsident sagt, er habe nichts gegen Kinder im Publikum, wenn sie sich ruhig verhielten. Wenig später, am frühen Mittwochabend, wird dann tatsächlich abgeschnitten. Strikt prozesskonform, nach dem Schlusswort der Beschuldigten.
Das Urteil wird für den nächsten Mittwoch erwartet. Ein Schlussstrich, wie es die Beschuldigten fordern, dürfte, egal wie das Gericht entscheidet, damit noch lange nicht gezogen sein. Die «Prozesskaskade» nimmt wohl bloss die nächste Stufe.
Es gilt die Unschuldsvermutung.