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Das hat es in der Geschichte der Olympischen Spiele noch nicht gegeben. Russland drohte wegen «Staatsdoping» die Verbannung von den Spielen in Rio. Die Vorwürfe, durch zahlreiche Untersuchungen erhärtet, sind massiv. Russland soll mit Hilfe des Staates in mindestens 20 Sportarten systematisch gedopt und die Kontrollen bei den Winterspielen in Sotschi manipuliert bzw. gar nicht durchgeführt haben. 15 von 33 russischen Medaillengewinner seien gedopt gewesen. Wahrlich, ein «Reich des Bösen».
Viele Kreise haben den Ausschluss der russischen Sportlerinnen und Sportler für Rio gefordert. Es ist das erste Mal, dass im olympischen Sport eine «Kollektivstrafe» thematisiert wurde. Die Hardliner haben sich nicht durchgesetzt. Im IOC gibt es auch Stimmen der Vernunft. Andere Beobachter sind enttäuscht über den Entscheid.
Der Schweizer René Fasel, langjähriges IOC-Mitglied und einer der weltweit einflussreichsten Sportfunktionäre gilt zwar als Freund von Wladimir Putin. Aber er hat ein zwingendes juristisches Argument gegen die «Kollektiv-Strafe»: «Es gibt auch im Sport eine Rechtsstaatlichkeit. Kollektivstrafen sind nicht zulässig und es geht nicht, dass jemand von den Spielen ausgeschlossen wird, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen.»
Die zentrale Frage bleibt: Ist Russlands Sportkultur tatsächlich so «böse», dass der generelle Ausschluss von Sportlerinnen und Sportlern gerechtfertigt gewesen wäre? Nein. Aber Russlands Sportkultur ist anders. Sie verstört westliche Beobachter durch eine im Westen undenkbare Masslosigkeit und Rücksichtslosigkeit.
Ein Blick zurück hilft, die Gegenwart zu verstehen. Der russische Sport hat keine lange Tradition und keine im Westen selbstverständliche Gewaltentrennung. Erst 1951 ist die Sowjetunion ins IOC aufgenommen worden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Russlands Sportler acht Medaillen geholt und einen einzigen Olympiasieger gefeiert: 1908 durch Nikolai Panin in London im Eiskunstlaufen. 1896,1920, 1924, 1928, 1932, 1936, 1948 und bei den Winterspielen 1952 fehlten die Russen. Aber seit 1952 sind es 1861 Medaillen, davon 706 goldene. Nur die USA sind in der olympischen Gesamtbilanz noch besser.
So wie das agrarische Russland nach der Revolution rücksichtslos industrialisiert und militarisiert worden ist, so haben die Kommunisten, als sie den Propagandawert erkannten, den Sport aufgebaut. Die Sportkultur ist in Russland nicht unter den Augen einer kritischen Öffentlichkeit von der Basis her vom Volksvergnügen zum Business gewachsen wie im Westen. Der russische Sport ist vom Staat mit unbegrenzten Ressourcen von oben nach unten in kürzester Zeit «aus dem Boden gestampft» worden und konnte und kann ohne staatliche Zuschüsse nicht existieren.
Trotz der gleichen Organisation wie im Westen (Fachverbände, nationales Olympisches Komitee) hat das letzte Wort immer das Sportministerium. Für den Erfolg waren (und sind) offensichtlich alle Mittel recht – wie es eben in der Geschichte des russischen Staates liegt. Nach dem Schock von Vancouver 2010 – nur dreimal Gold, Platz 11 im Medaillenspiegel – strebt Russland erst recht mit allen Mitteln die Rückkehr zum Erfolg an. Der Vorwurf, der Staat decke und unterstütze mit Hilfe des Geheimdienstes das Hantieren in der Doping-Giftküche, trifft bei dieser zentralistischen Struktur den Kern der Sache.
Die absolute Macht des Staates im Sport zeigte sich ja auch 1984: aus politischen Gründen (Retourkutsche für den Boykott der Spiele von 1980 in Moskau der westlichen Staaten) wurde der Verzicht auf die Spiele in Los Angeles verordnet ohne die Sportverbände oder die Sportler nach ihrer Meinung zu fragen. Geldprobleme gibt es bei olympischen Sportarten auch nicht. «Russlands Sport hat beinahe unbegrenzte Mittel zur Verfügung, die Investitionen dürften heute sogar höher sein als zu den Zeiten der Sowjetunion.» Das sagt Wladimir Karpow*, einer der besten Kenner des russischen Sportes. Er war in Moskau Sportjournalist, ehe er in den 1990er Jahren in den Westen Kanadas auswanderte und nicht mit seinem richtigen Namen zitiert werden will.
«Niemand kennt die genauen Zahlen. Aber die Summen sind astronomisch und dürften viel höher sein als die Investitionen in den US-Sport. Es ist ein Prinzip, das in Russland auch in anderen Bereichen gilt: So viel wie nur irgendwie möglich einsetzen. So steigen die Chancen auf einen Gewinn, der mit den «Partnern» geteilt werden kann …» Quantität, die Qualität bringen soll. Eine gewisse Masslosigkeit und Rücksichtslosigkeit.
Russland ist seit Ewigkeiten ein totalitärer Staat. Totalitär war das Regime des Zaren, der Kommunisten und totalitär ist mehr oder weniger die Regierung von Wladimir Putin. Es fehlt den Sportmachern die westliche Sensibilität für Recht und Gesetz. Kritische Medien haben sie auch nicht zu fürchten. Um es etwas frivol auszudrücken: In westlichen Ländern wird vorsichtiger gedopt. Die Angst, erwischt zu werden, ist im Westen ausgeprägter, zumal es auch eine kritische Öffentlichkeit und unabhängige Medien gibt.
Es hat schon seinen Grund, warum der damalige IOC-Präsident Siegfried Edström beim IOC-Kongress 1951 in Wien, bei dem die UdSSR in den Kreis der olympischen Nationen aufgenommen worden ist, den sowjetischen Abgesandten Konstantin Andrianow eindringlich fragte: «Herr Andrianow, Ihnen muss bekannt sein, dass nicht nur Muskelkraft zu den olympischen Tugenden gehören. Jeder, der sich entschliesst, in unsere Bewegung einzutreten, muss Ehre und Tapferkeit besitzen, muss für Gerechtigkeit eintreten und sich an unsere Regeln halten. Sind Sie mit diesen Prinzipien einverstanden?» Er war es.
Aber auch das gehört in einem gewissen Sinne zum Selbstverständnis der Politik (in Russland ist Sport immer Politik): Zusagen machen und sich nicht darum scheren. Am 19. Juli 1952 werden die Spiele in Helsinki eröffnet und am nächsten Tag holt die Diskuswerferin Nina Romaschkowa das erste Gold des sowjetischen Sportes. Die Sowjets reisen 1952 mit einer 295-köpfigen Delegation nach Helsinki, und gewinnen bei ihren ersten Spielen 71 Medaillen. Russland (bzw. die UdSSR) ist auf Anhieb eine Sport-Weltmacht, nur von den USA übertroffen. So ein Aufstieg geht nur mit Hilfe des Staates und dem rücksichtslosen Einsatz aller Mittel.
Der russische Sport dürfte beim Rühren in den Doping-Hexenkesseln, um es wieder etwas frivol zu sagen, ein ähnliches Problem haben wie in der Wirtschaft: Ein technologischer Rückstand, der seit den späten 1980er Jahren immer grösser wird und mit zum Untergang der Sowjetunion beigetragen hat. Die Druiden der westlichen Sportmedizin sind besser.
Und so wird beim Bemühen, diesen Rückstand aufzuholen, zu jenen unkonventionellen Mitteln gegriffen (Betrug, Korruption), die Russland heute auch in anderen Lebensbereichen schwer zu schaffen machen. Wladimir Karpow* sagt es so: «Der Sport ist in Russland keine Insel der Seligen. Der Sport hat die gleichen Probleme wie die anderen Bereiche der Gesellschaft auch.»
*Name der Redaktion bekannt.