Eine «normale» Mannschaft hätte dieses Spiel verloren. Wenn je eine Mannschaft in einem so wichtigen Spiel das Glück «erzwungen» hat, dann sind es die ZSC Lions in diesem vierten Finalspiel.
Alles läuft gegen die Zürcher. Sie sind nicht bereit und werden bestraft. 0:2 nach dem ersten Drittel. Der zweite Gegentreffer hat gar Kultpotenzial. Captain Patrick Geering, der verlässlichste Ingenieur im defensiven Maschinenraum, lässt sich bei numerischer Überlegenheit von Maxim Lapierre den Puck abnehmen – 0:2.
Eine Mannschaft mit einem «normalen» Selbstvertrauen wäre an diesem Fehler zerbrochen. Wenn der Verlässlichste der Verlässlichen einen solchen Fehler begeht – dann ist wohl nichts mehr zu machen.
Aber die ZSC Lions überwinden diesen Schock. Doch sie müssen wegen dieser Sünden der Anfangsphase hart und lange und über die reguläre Spielzeit hinaus arbeiten.
Diese Partie hat spektakulär gezeigt, was das ZSC-Erfolgsgeheimnis und zugleich das ZSC-Problem ist: das Fehlen einer Prise spielerischer Klasse.
Die ZSC Lions sind nicht gut genug, um Eishockey siegreich zu spielen. Dafür haben sie nicht genug Talent. Typisch, dass sie selbst in diesem siegreichen 4. Finalspiel im Powerplay eine Negativ-Bilanz haben (0:1). Nur der SCB kann gegen jede Mannschaft der Liga spielend gewinnen.
Die Zürcher müssen Eishockey arbeiten, also den Sieg erarbeiten. Und das tun sie in den Playoffs 2018 besser als jede andere Mannschaft. Sie sind mental und physisch so robust, dass sie dazu in der Lage sind, ihre Fehler «abzuarbeiten», zu korrigieren. Deshalb haben sie Zug im Viertelfinale besiegt und den spielerisch besseren SCB im Halbfinale aus den Playoffs gearbeitet. Und jetzt sind sie drauf und dran, gegen Lugano den Titel zu erarbeiten.
Trainer Hans Kossmann erklärt in seiner träfen Art, warum seine Jungs das Spiel nach dem 0:2 noch gedreht haben: «Ich habe in der ersten Pause nicht getobt. Wir waren alle davon überzeugt, dass wir mehr als zwei Tore erzielen können. Also haben wir uns an die Arbeit gemacht.» Er sei nie beunruhigt gewesen. «Wir haben immer mehr dominiert. Lugano hatte gute Chancen – aber je länger das Spiel dauerte, umso weniger.»
Das Spiel der Zürcher ist berechenbar, einfach, geradlinig, wuchtig, einschüchternd und zermürbend. Sie sind mit diesem simplen Hockey, mit ihrem gnadenlosen Realismus inzwischen dazu in der Lage, sogar eine Verlängerung zu dominieren. Die Hockeygötter würfelten nicht mehr wie zuvor im zweiten Spiel (5:4 n.V). Jetzt war es ein logischer, zwingender Sieg in der Verlängerung. Erst setzt Fredrik Pettersson einen Penalty an den Pfosten (67. Min.), ehe Chris Baltisberger in der 75. Minute die Partie entscheidet.
Wenn die ZSC Lions weiterhin so fleissig und mutig und beharrlich arbeiten, dann hat Lugano keine Chance. Dann jagen die Zürcher den scheibenführenden Spieler, dann gibt es keine Ruhepause, dann werden Raum und Zeit knapp, dann rumpelt es in regelmässigen Abständen, dann provozieren sie Fehler: Dem entscheidenden Treffer in der Verlängerung ist ein Fehlpass vorausgegangen.
Dieser Sieg trägt den Kern des meisterlichen Triumphes in sich. Die Zürcher haben den Stresstest bestanden. Wer so ein Spiel doch noch gewinnt, wer am starken gegnerischen Torhüter nicht zerbricht, wird Meister. Hockeylogik kann die ZSC Lions nicht mehr stoppen. Sie sind besser, mental und physisch robuster und haben nun drei Chancen für den finalen Sieg.
Alles klar? Nein. Noch immer stehen die Zürcher auf dünnem Meistereis. Lugano hat mit Elvis Merzlikins einen Torhüter, der den Sieg zu stehlen vermag. Lugano hat genug Emotionen, Energie, Tempo und Talent, um gegen die Zürcher vier Tore zu schiessen. Ein Glück für die ZSC Lions, dass Lugano diesen Mut bisher nur in den Heimspielen hatte.
Entscheidend ist ein Punkt, der bisher kaum beachtet worden ist: die Hockey-Romantik. Sie hat die Niederlage im zweiten Spiel in Lugano (0:3) mitverursacht.
Mathias Seger (40) wird nach dieser Saison seine grandiose Karriere beenden. Seit 1999 verteidigt er für die ZSC Lions. 12 Jahre lang gar als Captain. Hiesse Mathias Seger Fritz Bärlocher oder Hans Meier und hätte keine Vergangenheit und würde nach dem Leistungsvermögen der Gegenwart beurteilt, müsste er auf der Tribüne sitzen.
So sehr ZSC-Trainer Hans Kossmann ein taktischer Realist sein mag – er ist der Versuchung der Romantik, dem Charisma des grossen Namens erlegen. Er hat Mathias Seger im dritten Spiel in Lugano erstmals in diesem Finale eingesetzt. Die Überforderung war offensichtlich: Mathias Seger stand bei allen drei Gegentreffern auf dem Eis. Die ZSC Lions verloren 0:3.
Am Mittwochabend ist aus dem Romantiker Hans Kossmann wieder der Realist Hans Kossmann geworden. Er hat Mathias Seger nicht mehr eingesetzt. Die ZSC Lions haben in der Verlängerung 3:2 gewonnen.
Nun können die ZSC Lions in jedem Spiel Meister werden. Entweder am Samstag in Lugano, am Mittwoch in Zürich oder am übernächsten Freitag in Lugano.
Kann es sein, dass Hans Kossmann den Mut hat, Mathias Seger weiterhin nicht mehr zu nominieren? Dem verdienstvollsten ZSC-Spieler der Neuzeit den triumphalen Abgang als Meister so zu verwehren? Arno Del Curto hat im Frühjahr 2015 seinen 39-jährigen Leitwolf Reto von Arx im allerletzten Spiel im Hallenstadion eingesetzt und der Emmentaler buchte mit seinem zweiten Saisontor den Treffer, der dem HCD den Titel bescherte. Wäre dazu nicht auch Mathias Seger in der Lage – wenn man ihn aufs Eis lassen würde?
Ach, es wäre so schön, es wäre echte Hockey-Romantik, wenn Mathias Seger den Meisterpokal in voller Montur in die Höhe stemmen könnte. Aber er ist ein Risikofaktor im ZSC-Spiel, der den Titel kosten kann.