Spanien hat es geschafft! Dank einem 2:1-Sieg im Final gegen England ist La Furia Roja zum vierten Mal (nach 1964, 2008 und 2012) Europameister. Während für England der Schmerz ohne Titel seit 1966 weitergeht, bricht für die Spanier womöglich eine neue Ära der Dominanz an.
Denn die Mannschaft von Trainer Luis de la Fuente ist noch längst nicht am Ende. Der defensive Kern der Mannschaft befindet sich auf dem Zenit der Karriere. Goalie Unai Simon (27), die Verteidiger Robin Le Normand (27), Marc Cucurella (25) und die defensiven Mittelfeldspieler Rodri (28) und Martin Zubimendi (25) haben noch viele gute Jahre vor sich. Einzig Aymeric Laporte (30) und Dani Carvajal (32) haben die 30-Jahre-Marke schon geknackt.
Gar noch rosiger sind die Zukunftsaussichten in der Offensive. Strippenzieher Pedri, der bis zu seiner Verletzung im Viertelfinal ein wichtiges Element im spanischen Kreativspiel war, ist erst 21-jährig. Der 19 Jahre alte Gavi von Barcelona verpasste die EM verletzt, wird künftig aber auch eine Rolle in dieser Mannschaft spielen. Auf den Flügeln werden Nico Williams (22) und Lamine Yamal (17) noch lange wirbeln. Und im Sturm hat Mikel Oyarzabal (27) bewiesen, dass er ein guter Ersatz für Álvaro Morata (31) sein kann, sollte dieser vom Zahn der Zeit eingeholt werden.
Auch wenn das Turnier mit einer der bittersten Niederlagen der Nati-Geschichte endete: Die Schweiz hat an der EM gezeigt, dass sie keine kleine Fussballnation mehr ist. Einerseits weil man sich kaum mehr Ausrutscher erlaubt: Nach 2014, 2016, 2018, 2021 und 2024 qualifizierte sich die Nati zum siebten Mal in Serie für eine K.o-Phase an einem grossen Turnier. Dies gelang in Europa sonst nur Frankreich.
Doch auch in den direkten Duellen hat sich einmal mehr gezeigt, dass sich die Nati nicht mehr vor grossen Nationen zu verstecken braucht. Gegen Gastgeber Deutschland gab man den Sieg erst in der Nachspielzeit ab, Italien liess man keine Chance und England musste man sich erst im Penaltyschiessen geschlagen geben. Wirklich überraschend ist dies an grossen Turnieren mittlerweile nicht mehr: In den zehn Spielen gegen ehemalige Welt- und Europameister gab es nur noch drei Niederlagen ohne Penaltyschiessen.
An der WM 2022 beging der damalige portugiesische Nationaltrainer Fernando Santos quasi Majestätsbeleidigung: Sowohl im Achtelfinal als auch im Viertelfinal setzte er Cristiano Ronaldo zu Beginn auf die Bank. Es schien der Anfang vom Ende von Ronaldos langer Karriere im Nationalteam.
Zwei Jahre später ist aber alles anders. Ronaldo, mittlerweile 39, war an der EM gesetzt. Nicht nur das: Er hatte quasi eine Carte blanche. Santos' Nachfolger Roberto Martinez liess Ronaldo bis auf das bedeutungslose Gruppenspiel gegen Georgien jedes Mal durchspielen, zudem durfte der Rekordtorschütze auch die Penaltys und Freistösse treten. Nach 486 gespielten Minuten ist die Bilanz aber ernüchternd: Ronaldo reist mit 0 Toren und 3,5 vergebenen Expected Goals aus Deutschland ab. Und damit als statistisch grösster Chancentod des Turniers.
So prasselte zuletzt harte Kritik auf den alternden Superstar ein. «Ich hatte geglaubt, dass Ronaldo ein Teamplayer geworden ist, aber das ist absoluter Unsinn», ätzte etwa Ex-Profi Didi Hamann nach dem verschossenen Elfmeter gegen Slowenien. Und der ehemalige englische Nationalspieler Chris Sutton schrieb in einer Kolumne für die «Daily Mail», Martinez hätte den Mut haben müssen, Ronaldo auszuwechseln. «Es ist Aufgabe eines Trainers, zu erkennen, ob eine Mannschaft unter einem Spieler leidet», so Sutton. «Ganz egal, wer das sein mag.»
Mit Diogo Jota und Gonçalo Ramos hätte Portugal zwei Spieler im Kader gehabt, die Ronaldos Platz im Zentrum hätten übernehmen können – und Portugal wäre damit möglicherweise erfolgreicher gewesen. Doch Ronaldo scheint auch mit dem Out an der EM nicht an ein Ende seiner Nationalteam-Karriere zu denken. Und falls Roberto Martinez nicht umdenkt, ist es durchaus denkbar, dass bei der WM 2026 ein 41-jähriger Ronaldo bei Portugal stürmt.
WM 2018 verpasst, EM 2021 gewonnen, WM 2022 verpasst – kein Team war in den letzten Jahren derart inkonstant wie Italien. Vor dem Turnier in Deutschland stellte sich so die grosse Frage: Was ist Italien wirklich – noch immer ein Topteam oder doch voll in der Krise?
Ein paar Wochen später scheint klar: Italien ist heute keine grosse Fussballnation mehr. Die Enttäuschungen scheinen die Regel, der Titel von 2021 die Ausnahme. Schon die Resultate – Achtelfinal-Out und nur ein Sieg – waren schlecht. Doch noch enttäuschender waren die Leistungen. Gegen Albanien ein erzitterter Sieg, gegen Spanien chancenlos, gegen Kroatien ein Unentschieden in letzter Sekunde und gegen die Schweiz desolat.
«Alles muss neu aufgebaut werden», titelte die «Gazzetta dello Sport» am Tag nach dem Out. Doch ob dies gelingen wird, darf bezweifelt werden. Das Team wirkt nach dem Rücktritt der alten Garde um Giorgio Chiellini ohne Biss, Trainer Luciano Spalletti weitestgehend ratlos. Sein Vertrag bis und mit WM 2026 darf er trotzdem erfüllen – in der Hoffnung, dass es trotz allem mal wieder für eine Qualifikation reicht.
Ab Ende bleibt dem Gastgeber kein gutes Gefühl. Die Enttäuschung über das knappe Viertelfinal-Out gegen Spanien. Das Hadern nach dem nicht gegeben Handspiel-Penalty gegen Marc Cucurella. Die Ernüchterung, nach den «Wir fahren nach Berlin»-Gesängen der Fans den Final doch nur am Fernseher verfolgen zu dürfen.
Mit etwas Abstand dürfte aber Fussball-Deutschland erkennen: Von der EM bleibt viel Gutes. Nach einem enttäuschenden Ende der Ära Löw und der Krise unter Hansi Flick hat Julian Nagelsmann frischen Wind ins Nationalteam gebracht. Das 5:1 im Startspiel gegen Schottland entfachte eine Euphorie, die es in Deutschland so schon lange nicht mehr gegeben hatte und die sich mit weiteren guten Leistungen durchs Turnier zog.
Neben der Stimmung kann Deutschland auch auf statistisch guten Leistungen aufbauen. Das Team von Julian Nagelsmann erspielte sich von allen Mannschaften in der K.o.-Phase die meisten Chancen pro 90 Minuten, gehörte auch defensiv zu den besten Teams und erspielte sich in sämtlichen Partien mehr Chancen als der Gegner. Ein Märchen an der Heim-EM blieb aus, gleichwohl darf Fussball-Deutschland optimistisch in Richtung WM 2026 blicken.
Rudelbildungen gelten als eines der grössten Ärgernisse des modernen Fussballs. Doch die EM in Deutschland hat gezeigt, wie effizient dagegen vorgegangen werden kann. Die UEFA führte für das Turnier die Regel ein, dass nur die Captains der jeweiligen Teams mit dem Schiedsrichter diskutieren dürfen. Sucht ein anderer Spieler das Gespräch, gibt es sogleich eine Verwarnung.
Das Resultat? Ziemlich gut. Zu grösseren Rudelbildungen kam es in Deutschland selten, obwohl nicht alle Unparteiischen die Regel gleich konsequent anwendeten. Auch die UEFA stufte die Anpassung wohl als Erfolg ein: In der kommenden Europacup-Saison (Champions League, Europa League und Conference League) kommt diese Regelung ebenfalls zur Anwendung.
Es ist eines der Bilder der EM: Luka Modric mit dem Pokal für den Mann des Spiels und einem Gesicht, welchem man die Enttäuschung eines ganzen Landes ansehen kann. Wenige Minuten zuvor hatte Kroatien gegen Italien in letzter Sekunde den Treffer zum 1:1 kassiert, was wenige Tage später das Out in der Gruppenphase besiegelte.
Luka Modrić was awarded the Man of the Match award. 🚨 pic.twitter.com/hmDMIg1sK0
— 🇭🇷 (@TheCroatianLad) June 24, 2024
Das verfrühte Out an der EM steht für das Ende eines historischen Fussballhochs für die Kroaten. Angeführt von Luka Modric hatten die Kroaten den WM-Final 2018 und den Halbfinal 2022 erreicht und als Aussenseiter die Fans begeistert. Doch die Generation, welche für die grossen Überraschungen sorgte, neigt sich dem Ende zu. Ivan Rakitic und Mario Mandzukic, Helden von 2018, sind zurückgetreten. Modric (38), Marcelo Brozovic (31) und Ivan Perisic (35) sind im Herbst ihrer Karriere.
Ähnlich wie Kroatien ist die Lage bei Belgien. Auch die «Roten Teufel» sorgten mit einer «goldenen Generation» für grosse WM-Turniere, doch auch bei den Belgiern scheint die beste Zeit vorbei zu sein. Bei der EM reichte es mit Ach und Krach für die K.o-Phase, wo man im Achtelfinal an Frankreich scheiterte. Bei der EM 2026 wird der Kern der Mannschaft um Thibaut Courtois, Kevin De Bruyne und Romelu Lukaku schon 34, 35 und 33. Für ein letztes Hurra ist es dann wohl zu spät.
Ja, in der K.o.-Phase blieben die Sensationen aus. Und doch haben die kleinen Fussball-Nationen an dieser EM für Highlights gesorgt.
Da sind etwa die Georgier, die in sämtlichen Spielen mit ihrem engagierten Spiel begeisterten und mit einem Sieg gegen Portugal für die grösste Sensation des Turniers sorgten. Aber da sind auch etwa die Slowakei, die England an den Rand einer Niederlage brachte. Oder Slowenien, das erst in einem dramatischen Penaltyschiessen an Portugal scheiterte. Und die Rumänen, welche gegen die Ukraine ein Fussball-Fest feierten.
Wie vor allen grossen Turnieren orteten Medien und Fussballfans vor der EM Geheimfavoriten – also Teams, welchen man am ehesten eine grosse Überraschung zutraut. Dabei fielen besonders oft zwei Namen: Ungarn und Österreich. Zwei Teams, deren Turnier dann in einer grossen Enttäuschung endete.
Ungarn blieb schon in der Vorrunde hängen. Natürlich hatte man das Pech, mit Deutschland und der Schweiz zwei der formstärksten Teams als Gruppengegner zu haben. Und trotzdem: Die Ungarn hatten zuletzt eigentlich bewiesen, mit den besten Teams mithalten zu können. Bei der EM 2016 gewannen sie ihre Gruppe mit Island, Portugal und Österreich. 2021 holten sie Unentschieden gegen Frankreich und Deutschland. Und in der letzten Nations League holte man einen Sieg gegen Deutschland und zwei gegen England – im Wembley gewann man gleich mit 4:0. Dass es bei dieser EURO nur zu drei Punkten in letzter Sekunde gegen Schottland reichte, wird den gestiegenen Ansprüchen der Osteuropäer nicht gerecht.
Etwas anders verlief das Turnier der Österreicher. Das Team von Ralf Rangnick spielte eine überragende Gruppenphase und beendete die Gruppe D sensationell vor Frankreich und der Niederlande auf Rang 1. Die Euphorie stieg weiter an. «Österreich jetzt als Titel-Favorit?», fragte sich der «Kurier» gar. Die Antwort darauf gaben im Achtelfinal die Türken, welche mit einem 2:1 den Geheimfavoriten zurück auf den Boden holten und nach Hause schickten.
In Deutschland bestätigte sich damit ein Trend, der in den letzten Jahren bereits erkennbar war: Die Geheimfavoriten kommen mit den gestiegenen Ansprüchen oft nicht klar. Bei der WM 2022 scheiterten die hoch gehandelten Dänen und Belgien bereits in der Gruppenphase. Und bei der EM 2021 schieden die von vielen hoch gelobten Türken ohne einen einzigen Punkt aus.
Grosse Fussball-Turniere machen eigentlich immer Spass. Aber die EM in Deutschland ganz besonders. Aus Schweizer Sicht natürlich vor allem, weil dank der kurzen Reisewege das Besuchen von Spielen viel zugänglicher war als die meisten anderen grossen Turniere.
Aber vor allem auch, weil in Deutschland Fussball gelebt wird. Das Gastgeberland zeigte sich nicht nur fussballerisch, sondern auch in Sachen Fans von seiner besten Seite. Selbst in der Gruppenphase, in welcher die Paarungen auf dem Papier teils nicht ganz so attraktiv schienen, besuchten im Schnitt fast 52'000 Leute ein Spiel – damit wurde eine durchschnittliche Auslastung von 98 Prozent erreicht. Eine Zahl, die als Spieler und Zuschauer richtig Freude macht – vor allem nach der WM in Katar, bei welcher insbesondere in der Gruppenphase zahlreiche Sitze frei blieben.
Es macht soviel mehr Sinn, Meisterschaften in einem Land abzuhalten, in dem Fussball auch gelebt wird und die Infrastruktur nicht mit Biegen und Brechen erst aus dem Boden gestampft werden muss.