Herr Schmid, Russland klagt, der Entscheid des IOC sei eine «Verschwörung des Westens». Ist er das?
Sicher nicht. Es existieren Fakten, die sich nicht weglügen lassen. Proben müssen manipuliert worden sein, chemische Zusammensetzungen von Urinproben sind nicht natürlich. Es kamen viele Elemente zusammen. In Russland versucht man, sich herauszureden, indem man die Schuld auf eine sehr kleine Gruppe von Verschwörern abwälzt.
Es geht aber um staatlich mit beeinflusstes Doping?
Vielleicht kann man tatsächlich von einer Verschwörung reden. Professor Richard McLaren schreibt in seiner Untersuchung von systematischem Doping von bis zu tausend russischen Athleten. Er schreibt von einer Verschwörung, in die sogar Teile des russischen Staates verwickelt sind.
Wer ist der Kopf der Verschwörung?
Das konnten wir nicht genau eruieren. Verschiedene Leute sagen, Whistleblower Grigori Rodschenkow sei es gewesen, damals Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors. Er scheint sehr kompetent zu sein. Aber er spielte auf zwei Seiten. Er brauchte seine wissenschaftlichen Erkenntnisse – und missbrauchte sie.
Er sorgte dafür, dass das Doping nicht entdeckt wurde?
Es wurden Mittel abgegeben, die es erschwerten, verbotene Substanzen zu finden. Mit seinem sogenannten Duchess-Cocktail aus drei Steroiden hat Rodschenkow offenbar eine Mischung hingekriegt, die für die Athleten eine Raketen-Wirkung hatte. Er hatte Einfluss. Auserlesene Eliten erhielten eine Kurpackung dieses Cocktails. Es mussten auch nummerierte Flaschen ausgetauscht werden. Dabei passierten Fehler, die man entdeckte. Es waren derart viele Leute involviert, dass man die Schuld nicht einfach auf Herrn Rodschenkow abschieben kann. Ich warf die Frage auf: Weshalb war der Nachrichtendienst im Labor?
Der russische Inlandgeheimdienst FSB war involviert?
Man sagte mir, er habe für die Sicherheit sorgen müssen. Nur: Bei uns sorgt die Polizei für die Sicherheit. Das sind Schutzbehauptungen. Wir suchten nicht Beweise, um Sportminister Witali Mutko zu überführen. Wir analysierten die Situation Bottom-up, von unten nach oben.
Letztlich landeten Sie aber bei Mutko?
Die Recherchen ergaben Verantwortlichkeiten bis hin zu ihm. Er unterschrieb den Host-City-Vertrag der Olympischen Spiele von Sotschi und trug damit eine administrative Verantwortung, die auch rechtlicher Natur ist. Im Vertrag gab es die Verpflichtungen, die Charta der Olympischen Spiele zu wahren und ein korrekt arbeitendes Labor zur Verfügung zu stellen.
Trafen Sie Mutko?
Ja. Zu Beginn hatten wir Mühe, Kontakt zu Russland aufzubauen. Gegen Ende unserer Untersuchung kamen die Russen aber auf uns zu. Witali Mutko war bei uns. Und auch Alexander Schukow, der Präsident des Olympischen Komitees Russlands.
Sie kamen in die Schweiz?
Ja. Wir konnten Fragen stellen. Wir würdigten das und stellten im Bericht auch fest, Russland selbst habe Massnahmen ergriffen. Auch Herr Putin gestand Fehler ein. Letztlich hiess es aber in Russland, der Verbrecher sitze in den USA und heisse Grigori Rodschenkow.
Trafen Sie ihn ebenfalls persönlich?
Er ist in einem Zeugenschutzprogramm in den USA. Aber wir sprachen mit ihm.
Mit Präsident Wladimir Putin selbst konnten Sie nicht sprechen?
Hätten wir Anhaltspunkte gehabt, dass er verwickelt ist, hätten wir es versucht. Ob es uns gelungen wäre, weiss ich nicht. Bei uns war ja alles freiwillig.
Putin hat Mutko dann zum Vize-Premierminister befördert, als McLaren seinen ersten Bericht veröffentlichte. Lässt das darauf schliessen, dass letztlich sogar Putin involviert war?
Sie können das privat so sehen. Der Kommissions-Präsident kann das aber nicht tun. Im Bericht halten wir fest, dass wir nicht feststellen konnten, dass Herr Putin von den Vorfällen wusste.
Putin verzichtet nun auf einen kompletten Olympia-Boykott Russlands.
Herr Putin ist bereit, die Chance zu packen, die ihm das IOC eröffnet hat. Mit gutem Grund: Es geht ihm um den Sport in Russland. Er kann nur jenen Zweig wieder aufbauen, der gesund ist. Dafür braucht es saubere Athleten.
Im Bericht schreibt die Kommission von einem Betrugsschema, das es in dieser Art noch nie gegeben habe und das «ausserordentlichen Schaden» an der Integrität des IOC angerichtet habe. Ein harter Satz.
Dieser Satz ist wahr. Ein Fragezeichen machte ich nur beim Begriff «noch nie da gewesen». Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der ehemaligen DDR, über die wir uns ebenfalls orientieren liessen, ist dieses Wort wohl falsch.
Sie gerieten in einen neuen Kalten Krieg zwischen Russland und den USA. Realisierten Sie das?
Ich hatte nie einen Druckversuch.
Weder aus Russland noch den USA?
Es gab Hacker-Angriffe. Doch wir hatten Sicherheitsmassnahmen getroffen, bevor wir unsere Arbeit aufnahmen. Zudem war es schwierig, an Beweismittel zu gelangen.
Sie waren ja Verteidigungsminister.
Genau. Der Nachrichtendienst war mir unterstellt. Während unserer Arbeit erhielten wir Hinweise auf Aktivitäten. Auch das IOC hat eine Sicherheitsorganisation.
Aktivitäten? Hackerangriffe? Oder wurde Ihr Telefon abgehört?
Es waren Leute in der Schweiz.
Russische Spione kamen in die Schweiz?
Wie funktionieren Nachrichtendienste? Wir leben nicht im Paradies. Während einer Wada-Konferenz befand sich eine Delegation eines russischen Nachrichtendienstes im selben Hotel. Das machte uns klar: Wir sind ein konkretes Angriffsziel.
Was kehrten Sie vor?
Das Übliche. Die Sekretärinnen arbeiteten auf Computern, die nicht am Netz angeschlossen waren und sich in einem geschlossenen Kreis befanden. Die Rollläden unseres Büros waren geschlossen, Sitzungszimmer und Vorgärten überwacht. Es wurde regelmässig auf Abhöranlagen untersucht. Wir nahmen keine elektronischen Geräte in den Raum. Wir wollten uns nicht naiv erwischen zu lassen.
Das IOC sperrte Witali Mutko lebenslänglich. Doch Mutko ist 2018 auch Cheforganisator der Fussball-WM in Russland. Müsste die Fifa reagieren?
Ich mag durchaus eine Meinung haben. Sie ist aber nicht von Bedeutung. Das ist Sache der Fifa.
In der Fifa entscheidet die Ethikkommission über das weitere Vorgehen. Was würde die Ethikkommission des IOC tun, in der Sie Mitglied sind?
Sie würde diesen Fall sicher ernsthaft diskutieren. Wie der Beschluss ausfallen würde, kann ich aber nicht sagen.
Sie sagen, Athleten sollten sich stärker zur Wehr setzen gegen Doping. Besteht das Problem nicht darin, dass sich genau das gar nicht lohnt?
Ein guter Gedanke. Genau deshalb brachten wir zur Sprache, eine Ombudsstelle zu schaffen, was meines Wissens bei der Wada an die Hand genommen wird.
Sportler äussern sich fast nicht zu Doping. Weil es noch ein Tabu ist?
Möglicherweise. Vielleicht müsste man sich überlegen, Olympische Spiele generell ohne Flaggen durchzuführen. Heute instrumentalisieren Nationen den Sport. Dieses System verführt dazu, nachzuhelfen. Zum Beispiel mit Duchess-Cocktails.
Sehen Sie Ihre Untersuchung als ein Schritt, Olympische Spiele wieder ehrlicher werden zu lassen?
Ich glaube, dass IOC-Präsident Thomas Bach und das IOC selbst diesen Willen haben. Das Exekutiv-Komitee beschloss die Sanktionen gegen Russland einstimmig, obwohl darin auch Freunde Russlands sitzen. Das hat mich beruhigt. Ich zweifelte daran, dass das IOC dies wirklich durchziehen würde, obwohl Präsident Bach von Anfang an eine entschiedene Auffassung vertrat. Er wollte aber eine exaktere Untersuchung. Das war ein wesentlicher Grund, dass ich das Mandat annahm.