Ich hatte keine grosse Lust auf diese Weltmeisterschaft in Katar. Zu viel passte nicht zusammen. Da war das Veranstalterland, das glaubt, sich mit Geld alles kaufen zu können (siehe zuletzt der Korruptionsskandal im EU-Parlament), aber weder willens noch fähig scheint, seine «Arbeitssklaven» gut zu behandeln, geschweige denn zu bezahlen.
Das Emirat Katar hat den rasanten Sprung vom Mittelalter in die Moderne nicht verdaut. Deshalb waren Alkohol im Stadion und Regenbogen-Farben tabu, aber Palästina-Flaggen allgegenwärtig, trotz deren hochgradig politischer Konnotation. Ein «Schlupfloch», das nur möglich war, weil die FIFA Palästina als Mitglied anerkannt hat.
Die FIFA war mein zweiter Kritikpunkt – und vor allem Präsident Gianni Infantino. Der Walliser schaffte es nicht einmal bei der Siegerehrung nach dem Endspiel einen würdevollen Auftritt hinzubekommen. Nun hat der Weltverband angekündigt, er könne bis 2031 im Amt bleiben. Es ist angesichts seiner bisherigen «Leistungsbilanz» die reinste Drohung.
(Sport-)Politisch sehe ich mich in meiner Kritik absolut bestätigt, auch wenn das Turnier seine Vorzüge hatte. Es war hervorragend organisiert. Und als «WM der kurzen Wege» war es für Fans und Medienleute ein Gewinn. Mir tun die Kolleginnen und Kollegen, die in vier Jahren zwischen Toronto und Mexiko-Stadt herumreisen müssen, schon jetzt leid.
Für die sportliche Bilanz gilt das positive Fazit erst recht. Ich habe meinen Boykott-Vorsatz einigermassen eingehalten und nur zwei Spiele in voller Länge gesehen: das Endspiel sowie den Nati-Achtelfinal gegen Portugal, mit einem Tag Verzögerung am Abend nach der Bundesratswahl. Ich hatte genug von Politik und entschied mich für das Sport-Debakel …
Punktuell aber habe ich reingeschaut und etwa die fabelhafte erste Halbzeit im Achtelfinal zwischen Brasilien und Südkorea genossen, als Neymar und Co. Sambafussball wie zu Pelés Zeiten zelebrierten und trotzdem in der nächsten Runde gegen die Kroaten auf der Strecke blieben, die der Schweiz zeigten, wie man als «Kleiner» Grosses erreicht.
Und dann natürlich dieser Schlusspunkt. «Wann haben wir das letzte Mal ein wirklich gutes WM-Endspiel gesehen?», habe ich mich am Ende meiner Kritik vor einem Monat gefragt. Argentinien und Frankreich haben diese Frage in aller Klarheit beantwortet. Was für ein Drama, was für eine Intensität! Und am Ende der richtige, weil hungrigere Sieger.
Das sagenhafte Niveau, das der Final über 120plus Minuten (das mit der Nachspielzeit ist ein Thema für sich) geboten hat, war beste Werbung für die umstrittene Winter-WM. Der Zeitpunkt erwies sich im Rückblick als ideal, weil die Spieler nicht nach einer langen Saison ausgepowert waren, sondern voll im Saft. Das spricht für eine Endrunde etwa im Oktober.
Aber war es der beste Final «aller Zeiten», wie euphorische Kommentatoren nun meinen? Es gab schon früher hochdramatische Endspiele, etwa beim letzten Titelgewinn Argentiniens 1986 in Mexiko. Der Ablauf der Partie hatte verblüffende Parallelen zum Spiel vom Sonntag. Auch damals führten die Gauchos 2:0 und sahen wie der sichere Sieger aus.
Dann erzielten die Deutschen innerhalb weniger Minuten zwei Tore. Als alle bereits mit einer Verlängerung rechneten, lancierte Diego Maradona mit seinem einzigen genialen Pass im Final (Lothar Matthäus hatte ihn zuvor komplett abgemeldet) in der 85. Minute Jorge Burruchaga, der zum 3:2 traf. Wer diese Szene gesehen hat, wird sie nie vergessen.
Deshalb noch ein Wort zum Vergleich von Maradona mit Lionel Messi. Dieser hat mit 35 die beste WM seiner Karriere gespielt und sich die hochverdiente Krone aufgesetzt. In Sachen sportliche Erfolge hat er Argentiniens Fussballgott weit übertroffen. Aber Messi hat nicht Maradonas Charisma, dessen ständiges Balancieren zwischen Genie und Wahnsinn.
Nie zeigte sich das deutlicher als bei jener WM 1986, als er im Viertelfinal gegen England innerhalb weniger Minuten das schändlichste («die Hand Gottes») und das schönste Tor der Fussballgeschichte erzielte. Diego Maradona war ein einziger Exzess. Als er vor zwei Jahren mit erst 60 Jahren starb, wunderten sich manche, dass er überhaupt so alt wurde.
Lionel Messi ist kein Maradona. Aber seine Spielkunst, die man in Katar in Vollendung erleben konnte, macht ihn zu einem der grössten Fussballer der Geschichte. Auch deshalb ist mein persönliches Fazit nach vier Wochen «Halb-Boykott» durchzogen. Manches an diesem Turnier war fragwürdig. Aber ich hätte trotzdem mehr Spiele schauen sollen.
Dies hört sich so an, als ob Messi die schlechtere Version Maradonas sei. Dabei ist es spätestens seit gestern umgekehrt.