Um es gleich klarzustellen: Ich war, bin und bleibe ein Befürworter des Videobeweises. Unter dem Strich macht er den Fussball gerechter.
Auch dann, wenn man manchmal daran verzweifeln könnte. Stichworte der letzten Tage: der Platzverweis gegen Amir Abrashi, der Penalty von Julian Alvarez, das Europacup-Ausscheiden des FC Lugano. Man kann nur darüber lachen, dass bei der Einführung des Videoschiedsrichters befürchtet wurde, mit diesem würden dem Fussball die Emotionen entzogen. Dass man glaubte, nach dem Spiel würde niemand mehr über Entscheide diskutieren, weil nichts mehr umstritten ist.
Regeltechnisch liegen die Schiedsrichter, die viel kompetenter sind als wir, in den allermeisten Fällen richtig. Dennoch bleibt das subjektive Gefühl: Der Willkür ist Tür und Tor geöffnet. Wann greift der VAR ein, wann nicht? Was gilt als «klarer Fehlentscheid», der ein Eingreifen rechtfertigt? Die Grauzonen in den Regeln lassen viel Interpretationsspielraum – und genau das führt zu uneinheitlichen Entscheidungen.
Gleichzeitig zeigt sich ein weiteres Paradox. Nun, wo umstrittene Szenen in Superzeitlupe vorwärts und rückwärts, aufwärts und abwärts und aus allen Blickwinkeln ganz genau betrachtet werden, sollte es keine zwei Meinungen mehr geben. Schliesslich ist eine Szene entweder ein Regelvergehen oder nicht.
Der VAR wurde eingeführt, um Klarheit zu schaffen. Doch in vielen Fällen sorgt er für das Gegenteil. Besonders die Hand-Regel ist ein Dauerbrenner, für den es keine Patentlösung zu geben scheint. Mal meldet sich der VAR, mal nicht – selbst bei nahezu identischen Szenen. Konfusion statt Klarheit.
In der langen Zeit, in der der Fussball ohne VAR auskam, war dies einfacher zu akzeptieren. Schiedsrichter mussten knifflige Entscheidungen treffen, oft aus ungünstiger Perspektive, in Echtzeit. Sie waren Menschen und Menschen machen Fehler.
Doch mit dem VAR kam vermeintlich die Maschine ins Spiel – und Maschinen dürfen keine Fehler machen. Sie werden konstruiert, um zu funktionieren. Doch genau hier liegt das Missverständnis: Der VAR ist keine Maschine, sondern ein Werkzeug, das von Menschen bedient wird. Und Menschen machen Fehler. Hundertprozentige Korrektheit wird es nie geben.
Diego Maradonas «Hand Gottes» gäbe es heute kaum mehr und der Fussball wäre um eine seiner legendärsten Episoden ärmer. Vielleicht hätte Argentinien ohne diesen Treffer den WM-Titel 1986 nicht gewonnen, die Geschichte müsste umgeschrieben werden.
Wollen wir weiterhin, dass Betrug gefeiert wird? Oder wollen wir Gerechtigkeit? Es darf nur eine Antwort geben. Fussball ist kein Wrestling. Wird heute im TV ausnahmsweise eine Partie ohne VAR gezeigt, beispielsweise im Cup, sträuben sich nach einem klar ersichtlichen Fehlentscheid mehr als nur die Nackenhaare.
Die Abschaffung des VAR wäre ein Fehler. Aber die Schiedsrichter müssen besser werden – zuverlässiger vor allem. Die Regeln müssen für alle gleich sein. Am besten wäre, sie würden vom gesunden Menschenverstand getrieben.
Vielleicht wäre es an der Zeit, den VAR neu zu denken. Wie wäre es zum Beispiel mit dieser Variante: Jeder Trainer erhält pro Halbzeit eine begrenzte Anzahl Challenges, um eine Überprüfung an der Seitenlinie zu verlangen – auch wenn die Gefahr bestünde, dass dies taktisch genutzt wird, um den Spielfluss zu stören. Ein Test in einer Liga würde zeigen, ob dies besser ist als die momentane Situation.
Heute ist es doch so: Ruft der VAR den Schiedsrichter an den Bildschirm, ändert er seinen Entscheid fast immer. Die Hemmschwelle zur Änderung, wenn ihn nun ein Trainer dorthin zitiert, ist eine andere: Der Schiedsrichter kann «freier» darüber urteilen, ob er richtig lag, als wenn ihn ein unparteiischer Fachmann auf einen möglichen Fehler hinweist.
Ob es so weit kommt, steht in den Sternen. Doch eines ist sicher: Die Angst, der VAR würde Emotionen killen, war kreuzfalsch.