Den Schritt vom Ausnahmetalent zum Siegfahrer hat Stefan Küng noch nicht geschafft. Vor seiner fünften Saison in der Elite aber sind die Voraussetzungen besser denn je, den Vorschusslorbeeren gerecht zu werden. Der 25-Jährige ist die Rolle als Helfer und Lehrling los und kann nun auf eigene Rechnung fahren. Talentproben hat er schon abgegeben. Mit dem Wechsel in die französische Equipe Groupama-FDJ, einem Rennstall der World Tour, soll aus dem ehemaligen Juniorenweltmeister ein Strassenprofi von internationalem Format werden.
Die vergangenen sechs Jahre stand Küng mit dem in den USA lizenzierten Team BMC im Einsatz. Eigentlich handelte es sich um eine Schweizer Mannschaft, als Hauptsponsor trat der im April 2018 verstorbene Zürcher Unternehmer Andy Rihs auf. Für Küng war es eine gute Zeit. Als Jungprofi hielt er sich im Kreis von Weltklassefahrern wie Olympiasieger Greg van Avermaet oder Zeitfahrweltmeister Rohan Dennis auf. Man liess Küng Zeit, wenn er als Folge von Stürzen wieder einmal länger ausfiel. Man setzte ihn nicht unter Druck. Das machte Küng selber. Er ist ehrgeizig und tut alles, um Erfolg zu haben.
Siege gab es für Küng mit BMC einige, insbesondere in Mannschaftszeitfahren, in denen der Thurgauer zu den Lokomotiven gehört. 2015 feierte er mit BMC in den USA den WM-Titel, im vergangenen Sommer triumphierte das Team in den Prüfungen gegen die Uhr an der Tour de France und Tour de Suisse. In den Rennen mit Massenstart gab Küng vor allem an der Tour de Romandie eine gute Figur ab. Aber meistens war er trotz seiner Klasse in der Rolle des Helfers gefangen. In den klassischen Eintagesrennen für Van Avermaet, an der Tour de France für Richie Porte.
Das bedeutete auch, dass für Küng keine Spitzenresultate möglich waren. Die Helfer stellen sich zu 100 Prozent in den Dienst der Mannschaft. Wenn sich in einem Rennen die Entscheidung anbahnt, sind die Domestiken fast immer am Ende ihrer Kräfte.
Der Transfer nach Frankreich ist für Küng mit vielen Umstellungen verbunden. «Nach sechs Jahren mit einem Velo von BMC brauchte es schon einige Zeit, um mich an die neue Marke zu gewöhnen. Man darf solche Wechsel nicht unterschätzen», sagt Küng. Mass am neuen Gefährt nahm er schon nach dem Ende der vergangenen Saison. Sechs Sattelmodelle gelangten zur Prüfung. «Ich bin eigentlich ein pflegeleichter Typ, aber wichtigen Sachen muss man ernsthaft auf den Grund gehen. Wir haben uns beispielsweise viel Zeit genommen, um den besten Sattel zu finden.» Bei den Schuhen haben Veloprofis wie die Fussballspieler freie Wahl.
In drei Trainingslagern – je einem im Dezember, Januar und zuletzt Februar im spanischen Calpe – brachte sich Küng in Form für neue Herausforderungen und lernte die Teamkollegen und die Personen aus dem Trainerstab besser kennen. «Es passt alles perfekt, genau so, wie ich es mir bei der Vertragsunterschrift vorgestellt habe. Wichtig ist mir zudem, dass viel Wert auf die Menschlichkeit gelegt wird.» Französisch spricht Küng nahezu perfekt aus seiner Zeit im Schweizer Bahnvierer. Auch deshalb war ein Wechsel in eine französische Mannschaft naheliegend. Sein Vertrag ist vorerst bis Ende 2020 datiert.
Ab heute beteiligt sich Küng an der Algarve-Rundfahrt. Es ist für den Ostschweizer der erste Wettkampf in dieser Saison mit der neuen Equipe. Schon am Freitag kann der Thurgauer aus Wilen bei Wil ein erstes Resultat von Bedeutung für seine neue Equipe ergattern. In Lagoa, ganz im Süden Portugals, steht ein Einzelzeitfahren über gut 20 Kilometer auf dem Programm. Prüfungen gegen die Uhr sind Küngs Paradedisziplin. Die Distanz an der Algarve-Küste ist auf seine Fähigkeiten zugeschnitten. «Die Strecke ist anspruchsvoll, aber sie liegt mir», sagt der wohl beste Schweizer Radprofi.
Im vergangenen Jahr beendete er das Zeitfahren der «Volta Algarve» auf dem dritten Platz. Von einem Sieg in dieser Woche will er nicht sprechen, aber er ist in Form. «Das Zeitfahren ist ein erster Gradmesser für mich. Die Vorbereitung verlief optimal. Die Werte und das Gefühl sind sehr gut», sagt Küng.
Die Algarve-Rundfahrt ist ein Vorbereitungsrennen von minderer Bedeutung für Profis mit gehobenen Ansprüchen. Aber die Standortbestimmung darf nicht unterschätzt werden. Ansehnliche Resultate – egal auf welcher Ebene erzielt – sind Balsam auf die Seele jedes Rennfahrers. Ernst wird es in den Frühlingklassikern in Flandern und im Norden Frankreichs. Paris–Roubaix, das Monument mit den vielen Kopfsteinpflaster, hat es Küng besonders angetan. Die Algarve-Rundfahrt ist für Küng die erste rennmässige Annäherung an den Pavé-Klassiker Paris–Roubaix vom 14. April. In Portugal sitzt der ehemalige Profi Frédéric Guesdon als Sportlicher Leiter im Mannschaftswagen Küngs. Der mittlerweile 47-jährige Franzose ist mit 17 Starts Paris–Roubaix–Rekordteilnehmer – zusammen mit dem Amerikaner George Hincapie.
Guesdon ist auch der letzte Franzose, der auf der Rennbahn in Roubaix triumphierte. Das war 1997. Nun steht Guesdon Küng mit Rat und Tat zur Seite. «Wir verstehen uns, sprechen oft miteinander und einigen uns auf einen Schlachtplan. Wir haben fast immer die gleichen Ansichten», so Küng.
Geldgeber des Rennstalls ist eine Versicherung. Paris–Roubaix ist im Frühling das mit Abstand wichtigste Rennen für die Franzosen und einheimischen Sponsoren. Neben Küng steht mit Arnaud Démare ein weiterer Klassikjäger im Team. Der Franzose ist endschnell und gewann 2016 Mailand–Sanremo. Küng sagt: «Ich werde mehr in die Fluchtgruppen gehen. Démare ist unser Trumpf, wenn die Entscheidung in den Sprints fällt.»
Paris–Roubaix ist oft ein Spiel mit dem Feuer. Küng erfuhr es schon mehrmals am eigenen Leib. Er war als Jungprofi dabei, als den Rennfahrern eine Bahnschranke in die Quere kam. Im vergangenen Jahr stürzte er unverschuldet. Die Folgen waren höchst unangenehm. Ein Kieferbruch setzte den Berufssportler für mehrere Wochen ausser Gefecht.
Trotz all der Unbill bleibt Paris–Roubaix neben der Tour de Suisse das Lieblingsrennen Küngs. Weshalb, kann er nicht so genau erklären. Fakt ist aber, dass kaum ein Profi so schnell über das Kopfsteinpflaster fahren kann wie der Thurgauer mit den Gardemassen von 1,93 Metern und 83 Kilogramm. Das zeigte Küng schon als Nachwuchsfahrer mit guten Resultaten.
Der Frühlingsparcours von Küng umfasst die anspruchsvollen Klassiker im Norden, die Strade Bianche in Italien und die Tour de Romandie. Die Rundfahrt durch die Westschweiz endet am 5. Mai. Hernach folgt die Vorbereitung auf die Tour de Suisse und Tour de France. Ob Küng zur «Grande Boucle» starten wird, ist noch offen. Aber die Franzosen werden Küng nicht verpflichtet haben, um ihren neuen Leader an der Österreich-Rundfahrt teilnehmen zu lassen. Küngs Rennprogramm ist in der ersten Saisonhälfte etwa dasselbe wie in den vergangenen Saisons. Aber er nimmt nun eine andere, wichtigere Rolle ein. Er hat die Qualitäten, um auch diese Herausforderung zu meistern.