In der angelsächsischen Welt tobt derzeit ein heftiger Streit über die Zukunft des Neoliberalismus. «Wir werden Zeugen vom Ende der neoliberalen Ära. Sie ist noch nicht vorbei, befindet sich aber im Todeskampf, ähnlich wie die sozialdemokratische Ära in den Siebzigerjahren», postuliert der Politologe Martin Jacques im «Guardian».
Dem widerspricht George Monbiot, ebenfalls im «Guardian». «Der Neoliberalismus ist so allgegenwärtig geworden, dass wir ihn kaum noch als Ideologie wahrnehmen», sagt er. «Wir akzeptieren ihn als ein biologisches Gesetz, wie Darwins Theorie von der Evolution.»
Zunächst aber stellt sich die Frage: Was versteht man überhaupt unter Neoliberalismus? Am Anfang steht ein Buch von Friedrich Hayek mit dem Titel «Der Weg zur Knechtschaft». Hayek stammt ursprünglich aus Wien und war ein Schüler von Ludwig von Mises. Beide flüchteten vor den Nazis. Hayek verschlug es an die London School of Economics.
Von Mises und Hayek sind die herausragenden Vertreter der «österreichischen Schule» der Ökonomie. Sie steht für einen radikalen Liberalismus und lehnt praktisch jeden Eingriff des Staates in den Markt ab. Hayek schrieb «Der Weg zur Knechtschaft» gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und verstand das Buch als Kampfschrift gegen den Sozialstaat.
Lange blieb das Buch ohne Wirkung. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Wirtschaftspolitik im Zeichen von John Maynard Keynes, dem grossen Gegenspieler von Hayek. Anders als die Österreicher vertritt Keynes die These, wonach der Staat in Krisen der Wirtschaft unter die Arme greifen und mit Ankurbelungsprogrammen eine Rezession verhindern muss.
Mit Erfolg. Die Wirtschaftspolitik aller führenden Nationen stand im Zeichen seiner Theorie. «Wir sind jetzt alle Keynesianer», erklärten einst sowohl der US-Präsident Richard Nixon wie auch der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt.
In den Siebzigerjahren geriet der Keynesianismus jedoch allmählich in Verruf, vor allem im Vereinigten Königreich und in den USA. Beide Länder litten unter einer hohen Inflation. Das Pfund stürzte ab, und die britische Regierung musste gar beim Internationalen Währungsfonds (IWF) um einen Notkredit ersuchen. Das Rezept, Wirtschaftseinbrüche mit Staatsinterventionen zu beheben, funktionierte offensichtlich nicht mehr. «Das Vertrauen schwand, dass die Regierung in der Lage sei, entscheidende soziale Probleme mit grossen Programmen zu lösen», stellen Daniel Yergin und Joseph Stanislaw in ihrem Buch «The Commanding Heights» fest.
Nun schlug die Stunde von Hayek. Sowohl Margaret Thatcher als auch Ronald Reagan hatten «Der Weg zur Knechtschaft» gelesen – Spötter behaupten allerdings, bei Reagan sei es bloss die Reader’s Digest-Version für Dummies gewesen – und waren entschlossen, den ihrer Meinung nach aufgeblähten Staat zurückzustutzen. Die neoliberale Revolution hatte begonnen.
Deregulierung, Privatisierung, Steuern senken und Handelshemmnisse abbauen – das waren die dominierenden Themen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die bald überall angewandt wurden. In den reichen Nationen begann der Siegeszug des Shareholder Value. Die armen Länder mussten sich den Geboten des «Washingtoner Konsens» unterwerfen, wenn sie vom IWF Kredit erhalten wollten.
Auch ideologisch rüstete der Neoliberalismus massiv auf. Milliardäre wie die Koch-Brüder finanzierten in den USA Denkfabriken wie das Cato Institute, die Heritage Foundation oder das American Interprise Institute, um die Vorherrschaft des keynesianischen Denkens zu brechen.
An den vorwiegend linksliberalen Universitäten wurden ganze Fakultäten gesponsert, verbunden mit der Auflage, das Gedankengut der Österreicher und ihrem Lieblingsschüler Milton Friedman zu verbreiten.
Nach dem Fall der Berliner Mauer war der Triumph des Neoliberalismus komplett. An den Universitäten wurden die Bücher von Keynes in die Mottenkisten verpackt. In den Medien verdrängten Börsen-Gurus die Intellektuellen und in der Euphorie der Dotcom-Blase begannen sich selbst Hausfrauen und Taxifahrer für Puts und Calls zu begeistern.
Auf der Strecke blieb immer mehr das Gemeinschaftsgefühl. «So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht», hatte Margaret Thatcher einst erklärt. Unter dem Motto «Leistung muss sich lohnen» wurde es auf breiter Ebene umgesetzt. Der Lohn der «Leistungsstarken» wurde mit einem Bonus veredelt. Die Börsen boomten und «Sozialstaat» wurde zu einem schmutzigen Wort.
Auch die Linke wurde vom neoliberalen Fieber erfasst. In den USA kürzte Bill Clinton die ohnehin schon spärlichen Sozialleistungen. Im Vereinigten Königreich konnte sich Margaret Thatcher rühmen, ihre beste Leistung sei Tony Blair gewesen, und in Deutschland packte Gerhard Schröder den Hammer der Agenda 2010 aus.
Drei Jahrzehnte Neoliberalismus haben die Gesellschaft gründlich umgekrempelt. Manager, die einst 20 Mal so viel verdienten wie ein gewöhnlicher Arbeitnehmer, kassieren heute 200 Mal so viel. Die Ungleichheit hat – wie Thomas Piketty nachwies – bald das gleiche Ausmass wie vor dem Ersten Weltkrieg erreicht.
Weltweit ist eine schmale superreiche Elite entstanden, die in eigener Welt lebt. Sie schickt ihre Kinder in private Internate und an für den Mittelstand unerschwingliche Universitäten. Ihre Geschäfte verhandelt sie am WEF in Davos, sozial trifft man sich beim Tennis in Wimbledon.
Die Linke hat dem Neoliberalismus wenig entgegenzusetzen. Nach dem Debakel der UdSSR sind Kommunismus und Klassenkampf diskreditiert. Der «Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften» ist im Westen ebenfalls nicht wirklich populär, und selbst der Keynesianismus ist als Wachstumsphilosophie im Zeitalter der Klimaerwärmung zum Problem geworden.
Doch auch der Neoliberalismus hat ein Problem. Margaret Thatcher und die Österreicher irren sich mit ihrem überdrehten Individualismus. Der Mensch ist ein soziales Wesen und es gibt so etwas wie eine Gemeinschaft. Individualismus und Leistungsdenken allein führen in eine Sackgasse. Der Neoliberalismus hat uns deshalb eine atomisierte, sinnentleerte Gesellschaft beschert.
Gegen diese Gesellschaft ist ein Aufstand im Gang. Aus Mangel an Alternativen wird die Gemeinschaft wieder in der Nation, der Religion oder gar in der Rasse gesehen. Gleichzeitig sind der Egoismus und das Pseudo-Leistungsdenken ungebrochen. Das Resultat ist ein Bastard: Ein wirtschaftlicher Nationalismus, der jedes einzelne Land «wieder gross» machen und alles Fremde von ihm abhalten soll. Wenn das mal gut geht.