In den 50er und 60er Jahren war eine spezielle Art einer Mutprobe in den USA beliebt: Auf einer geraden Strasse sassen an beiden Enden zwei junge Männer in einem Auto. Beide platzierten ihr linkes Vorderrad auf den Mittelstreifen und rasten aufeinander los. Wer zuerst vom Mittelstreifen abwich, hatte verloren.
«Game of Chicken» wird dieses Spiel genannt – und es wird derzeit zwischen den USA und China gespielt. In dieser geopolitischen Mutprobe droht Donald Trump mit einem Handelskrieg und ist enttäuscht, dass die Chinesen für ihn in Nordkorea nicht die Kastanien aus dem Feuer holen. Xi Jinping zeigt sich davon unbeeindruckt und verfolgt unbeirrt weiter seine Ziele. Beide Nationen rüsten derweil massiv auf.
Sind die USA und China dazu verdammt, gegeneinander Krieg zu führen? Diese Frage versucht Graham Allison in seinem Buch «Destined for War» zu beantworten. Er ist Politologie-Professor an der Harvard University und war Berater der Verteidigungsminister unter Reagan, Clinton und Obama.
Um die Frage zu beantworten greift Allison auf den griechischen Historiker Thukydides zurück. Dieser lebte von 460 bis 395 vor Christus in Athen und ist der Chronist des Peloponnesischen Krieges. Dabei ging es um die Rivalität zwischen Sparta und dem aufstrebenden Athen. Sie waren nicht in der Lage, diese Rivalität friedlich zu lösen und zerstörten sich deshalb gegenseitig.
Allison spricht daher von einer Thukydides-Falle. Darunter versteht er das Phänomen, dass eine aufstrebende Macht zu einer Bedrohung einer bestehenden Macht wird, und dass diese Bedrohung letztlich nur durch eine kriegerische Auseinandersetzung zu lösen ist. In der Geschichte der Menschheit hat es gemäss Allison insgesamt 16 solche Thukydides-Fallen gegeben. Nur vier davon endeten ohne Blutvergiessen.
Das verheerendste Beispiel einer Thukydides-Falle war die Rivalität zwischen Deutschland und Grossbritannien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Deutschland zu einer Wirtschaftsmacht und wollte als solche ernst genommen werden. Es verlangte seinen Platz am Tisch der Grossen und wollte sich als Kolonialmacht etablieren. Grossbritannien verfolgte diese Ambitionen misstrauisch und wurde vor allem nervös, als die Deutschen begannen, ihre Flotte aufzurüsten.
Im Verhältnis zwischen den USA und China sieht Allison Parallelen zu dieser Ausgangslage. «Wie einst Deutschland hat China das Gefühl, es sei um seinen ihm zugehörigen Platz unter den Grossmächten betrogen worden, als es schwach war», stellt Allison fest. «Wie Deutschland hat China den festen Willen und auch die Mittel dazu, den Status quo zu verändern. Derweil verteidigen die Vereinigten Staaten wie einst Grossbritannien eifersüchtig ihre führende Position in der Welt und verhindern entschlossen die chinesischen Versuche, die bestehende Weltordnung zu verändern.»
Der chinesische Aufstieg zu einer wirtschaftlichen Supermacht ist noch viel spektakulärer als seinerzeit der deutsche. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten ist China von Maos Steinzeitkommunismus zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt geworden, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es die USA an der Spitze ablösen wird. «Chinas wirtschaftliche Entwicklung verwandelt es in einen formidablen politischen und militärischen Konkurrenten der USA», so Allison.
Die USA ihrerseits haben sich vor gut hundert Jahren in einer vergleichbaren Situation befunden. Ihr rasanter wirtschaftlicher Aufstieg hatten sie zu einem Konkurrenten der damaligen Weltmacht Grossbritannien gemacht – eine der vier Thakydides-Fallen übrigens, die friedlich gelöst werden konnten. Doch auch die USA setzten alles daran, um ihren Platz am Tisch der Grossmächte zu ergattern.
Eine entscheidende Rolle spielte dabei Theodore Roosevelt, 26. US-Präsident von 1901 bis 1909. Roosevelt brach einen Krieg mit Spanien vom Zaun. Die Amerikaner vertrieben die Spanier aus Kuba. Roosevelt machte klar, dass die Amerikaner fortan das Sagen in ihrem Hinterhof hatten.
Er bestand auf einer knallharten Umsetzung der Monroe-Doktrin. Der ehemalige US-Präsident hatte mit dieser Doktrin festgelegt, dass die Europäer ihre Finger von Mittel- und Südamerika zu lassen hätten. Die Vorherrschaft Die Monroe-Doktrin sei «keine Frage des Völkerrechts», erklärte Roosevelt. «Es ist eine Frage der Politik.»
Diese Haltung nimmt auch Xi Jinping ein, wenn es um das Südchinesische Meer geht. Wie einst Theodore Roosevelt lässt der starke Mann Chinas keinen Zweifel daran, dass dort Peking das Sagen hat und dass amerikanische Einmischung nicht mehr gewünscht wird. Und wie Roosevelt will Xi China wieder zu alter Stärker zurückführen.
Was es bedeutet, «Making China Great Again», fasst Allison wie folgt zusammen:
China verfolgt seine Ziele hartnäckig und konsequent. Mit dem Programm «One Road One Belt» wird der wirtschaftliche Einfluss erweitert.
Diese «neue Seidenstrasse», wie das Programm auch genannt wird, soll dereinst China mit dem gesamten asiatischen Kontinent, aber auch mit Europa und Afrika verbinden. Von Indonesien über Sri Lanka, Pakistan, Tansania und Kenia bauen die Chinesen Strassen, Eisenbahnen, Flug- und Hochseehäfen.
Im ostafrikanischen Staat Dschibuti haben die Chinesen soeben einen militärischen Hafen in Betrieb genommen. Ähnlich wie einst die Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg die Briten herausforderten, wollen die Chinesen langfristig den Amerikanern die Stirne bieten. «Das chinesische Aufrüsten zu See beunruhigt die Amerikaner», stellt der «Economist» fest. «Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass eine neue Entwicklung ihnen Bauchweh bereitet.»
Am explosivsten ist die Lage im Südchinesischen Meer. Dort verteidigen die Chinesen, eine Zone, die sie die Neun-Striche-Linie nennen. Dabei nehmen sie Konflikte mit Nachbarstaaten wie Vietnam oder den Philippinen in Kauf und ignorieren Urteile des Gerichtes in Den Haag, das kürzlich in einem Fall gegen sie entscheiden hat.
Ebenfalls keinen Spass versteht Peking, wenn es um die künstlichen Inseln geht, welche die Chinesen in diesem Gebiet aufgeschüttet haben und die sie zu militärischen Zwecken verwenden wollen. US-Aussenminister Rex Tillerson hat sich jedoch dafür ausgesprochen, den Chinesen den Zugang zu diesen Inseln zu verweigern.
Allison befürchtet, dass die Lage im Südchinesischen Meer ausser Kontrolle geraten und dass aus einem «Game of Chicken» blutiger Ernst werden könnte. Verschieden Szenarien sind dabei denkbar.
«Ein Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China ist nicht unabwendbar, aber er ist möglich», schreibt Allison. «Der Stress, der durch den disruptiven Aufstieg Chinas entstanden ist, hat Voraussetzungen geschaffen, in denen normalerweise harmlose Ereignisse einen Konflikt mit grosser Tragweite auslösen können. (...)Wenn die Entwicklung sich weiter so fortsetzt, ist ein katastrophaler Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China in den kommenden Jahrzehnten nicht nur möglich geworden, sondern wahrscheinlicher, als wir es wahrhaben wollen.»
Lange wurde im Westen darauf spekuliert, dass der wirtschaftliche Erfolg China quasi automatisch in ein demokratisches Land verwandeln würde. China würde dann dem Beispiel von Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg folgen und sich einer von der Supermacht USA dominierten Weltordnung unterwerfen, so die Hoffnung.
Heute weiss man, dass diese Betrachtungsweise naiv war. Die alte Zivilisation China ist entschlossen, wieder zu ihrer ehemaligen Grössen zu finden und denkt nicht im Traum daran, sich am westlichen Vorbild zu orientieren.
Das erhöht die Gefahr, dass die Thukydides-Falle tatsächlich wieder zuschnappen könnte. Es führt auch zur Einsicht, dass es keine schnelle und dauerhafte Lösung für das Verhältnis zwischen den USA und China geben wird. Darauf ist der Westen schlecht vorbereitet. «Der Status quo kann angesichts der Tatsache, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse sich so stark zugunsten Chinas verändern werden, nicht aufrecht erhalten werden», stellt Allison fest. «Um ehrlich zu sein: Amerikas reale Strategie basiert auf dem Prinzip Hoffnung.»
Für den Rest der Welt ist das nicht wirklich hoffnungsvoll.