Die renommierte Historikerin Anne Applebaum erkennt
heute Parallelen zu den Dreissigerjahren. Teilen Sie diese Einschätzung?
Nein. Zwar gibt es Ähnlichkeiten,
doch es gibt auch einen gravierenden Unterschied: In den Dreissigerjahren haben
die grossen Konzerne den Schutz des deutschen Binnenmarktes angestrebt und
deshalb die Nazis unterstützt. Heute brauchen die internationalen Konzerne
keinen solchen Schutz mehr. Sie wollen einen Schutz des Weltmarktes und können
deshalb mit einem engen Nationalismus nichts anfangen.
Donald Trump sieht das anders. Er setzt voll
auf die Karten Nationalismus und Protektionismus.
Die USA sind ein
anderer Fall. Das ist ein grosses Land mit einem grossen Binnenmarkt. Ich habe
mich auf Europa bezogen, wo Protektionismus keinen Sinn mehr macht.
Beim Rechtspopulismus gibt es auch in Europa
Dinge, die an die Dreissigerjahre erinnern.
Die Menschen haben die
Nase voll vom politischen Establishment. Die Krisen nehmen kein Ende und
verunsichern die Menschen. Sie wissen heute gar nicht, was Europa überhaupt
darstellen soll. Es läuft derzeit gar
nicht gut.
Es lässt sich nicht leugnen, dass wir heute
wieder Rassismus und Religionskriege haben.
In den
Dreissigerjahren waren es die Juden, heute ist es der Islam. Dabei haben wir geglaubt,
das hätten wir hinter uns. Wissen Sie, was uns fehlt? Ein Weltpolitiker von
Format, der Autorität ausstrahlt.
Könnte eine solche Figur tatsächlich den
Vormarsch der Rechtspopulisten stoppen?
Es kommen mehrere
Dinge zusammen. Erstens haben wir keine solche Figur, und zweitens stecken wir
tatsächlich in einer tiefen Krise. Die Neoliberalen halten unbeirrt an ihrem
Kurs fest, und in Deutschland hat Finanzminister Wolfgang Schäuble nur eine
Idee: Sparen, sparen, sparen. Das ist alles abenteuerlich falsch. Deshalb sage
ich auch: Wir brauchen in Deutschland einen Regierungswechsel. Was wir derzeit
haben, ist paradox. Die CDU ist sozialdemokratisch geworden – und die SPD hat
ihre eigenen Prinzipien aus den Augen verloren. Alles ist durcheinander, und
das nützen die Rechtspopulisten aus.
Deutschland ist unfreiwillig zur Führungsmacht
in Europa geworden. Wie Joseph Stiglitz kürzlich sehr überzeugend aufgezeigt
hat, driften die wirtschaftlichen Interessen von Deutschland und dem Süden
immer stärker auseinander. Wie lange kann dies noch gut gehen?
Bricht der Euro
auseinander, werden wir Massenarbeitslosigkeit in Deutschland haben. Die Einführung des Euro war ein Fehler, aber
ihn jetzt überstürzt auflösen zu wollen, wäre eine Katastrophe. Stiglitz
argumentiert rein ökonomisch. Da mag er ja Recht haben. Aber als Politiker muss
ich mir auch die politischen Folgen überlegen.
Mit anderen Worten: Sie halten nichts von einer
Zweiteilung des Euros?
Das möchte Schäuble
schon lange. Er träumt immer noch von einem Kerneuropa. Aber mit 28
EU-Mitgliedern kriegt man das nicht mehr gebastelt. Und es ist immer
gefährlich, in der Politik zu spielen. Das hat der ehemalige britische
Premierminister David Cameron erlebt. Er hat gespielt – und hat alles kaputt
gemacht.
Wie also sehen Sie die Zukunft des Euros?
Wir müssen die EU
solidarischer und sozialer gestalten. Der Süden braucht einen Marshall-Plan und
eine Konferenz, wie wir sie 1953 in London hatten. Damals sind Deutschland ganz
viele Schulden erlassen worden. Das hat man vergessen, und wenn ich die
Deutschen heute daran erinnere, dann mache ich mich unbeliebt. Doch wir müssen
die Schuldenfrage klären, sonst geht der Euro kaputt.
Wäre das so schlimm?
Ja, es würde im Chaos
enden. Raus aus dem Euro wollen immer nur die Rechten. Und als Wissenschaftler
von aussen Ratschläge zu geben, ist das Eine. Aber es dann als Regierungschef
verantworten zu müssen, ist eine ganz andere Sache.
Mit Trump werden sich höchstwahrscheinlich die
Spielregeln des Welthandels ändern. Muss da nicht Deutschland seine Rolle als
Exportweltmeister überdenken?
Warten wir mal ab.
Aber ja, mir machen seine Pläne grosse Sorgen. Ich hoffe, man kann ihm ein paar
Dinge noch ausreden. Er sollte beispielsweise darauf verzichten, das Abkommen
mit dem Iran aufzukündigen. Auch die Mauer gegen Mexiko ist überflüssig und
wesentliche Bestandteile der Gesundheitsreform sollte er beibehalten.
Sehen Sie auch positive Seiten bei Trump?
Die Chemie zwischen
ihm und Putin wird besser sein. Das bedeutet, dass die USA und Russland
leichter zu einem Kompromiss zur Lösung der Ukraine-Krise finden könnten.
Warum hat die Linke ein so romantisches Bild
von Putin? Russland ist eine üble Diktatur.
Russland war nie eine
Demokratie, aber das ist nicht die Frage. Aber Putin hat als KGB-Mitarbeiter in
der DDR erlebt, wie der Westen immer näher an Russland gerückt ist. Alle
ehemaligen Sowjet-Republiken sollten in die Nato. Putin fühlt sich umkreist.
Na und? Grossbritannien war einst auch eine
Weltmacht. Dürfen die Engländer deswegen ihre Kolonien wieder zurückfordern?
Russland ist immer
noch eine atomare Weltmacht, ob es Ihnen passt oder nicht. Russland ist nicht
die Schweiz, und wir können uns nicht so benehmen, als ob es die Schweiz wäre.
Wir haben wegen der Annexion der Krim – die ich übrigens für
völkerrechtswidrig halte – Sanktionen beschlossen. Aber der Einmarsch der
Amerikaner in den Irak war auch völkerrechtswidrig, und welche Sanktionen haben wir beschlossen?
Und jetzt verbündet sich Putin mit Erdogan gegen die EU. Das ist eine
Katastrophe.
Putin unterstützt alle Rechtspopulisten, welche
die EU zerstören wollen.
Ursprünglich wollte
sich Putin mit der EU verständigen. Das hat George W. Bush mit dem Versuch,
auch die Ukraine in die Nato zu lotsen, vermasselt. Stellen Sie sich vor, die
Ukraine wäre Nato-Mitglied geworden. Dann hätte Russland seine
Schwarzmeer-Flotte gewissermassen im Feindesgebiet stationiert gehabt. So geht
das alles nicht. Wir müssen Russland als
Grossmacht respektieren.
Der scheidende US-Präsident Barack Obama hat
Russland als eine Regionalmacht bezeichnet.
Das war ein schlimmer
Fehler und hat dazu geführt, dass uns Putin beweisen wollte, dass Russland eine
Weltmacht ist.
Deutschland gerät nun zwischen Hammer und
Amboss, zwischen Russland und die Vereinigten Staaten. Was soll die Kanzlerin
tun?
Ich wäre von Anfang an
den Minsker Weg gegangen. Die Sanktionen halte ich für verfehlt. Wir wollen ja
alle keinen Dritten Weltkrieg.
Begrüssen Sie eine Annäherung von Deutschland
an Russland?
Natürlich. Aber das
heisst nicht unkritisch zu sein. Wir müssen aber eine Beziehung mit Russland
herstellen, in der die Kritik auch gehört wird. Und wirtschaftlich gesehen ist
Deutschland der zweitwichtigste Handelspartner von Russland. Die
mittelständischen Unternehmen in Deutschland leiden mehr unter den Sanktionen
als die Russen.
Bekommen Sie kein mulmiges Gefühl, wenn Sie
daran denken, dass zwei ausgesprochene Machtmenschen wie Trump und Putin
darüber entscheiden, wie die Welt aufgeteilt werden soll?
Wenn sie sich darüber
einigen könnten, wer wo das Sagen hat, dann könnte es zu einer Beruhigung der
weltpolitischen Lage führen.
Sie raten der Schweiz, nicht der EU
beizutreten. Weshalb?
Es gibt immer eine
Ausnahme. Die Schweiz ist in Europa die Ausnahme – und sollte das auch bleiben.