Impfstoffe gegen die Grippe könnten auch gegen Covid-19 schützen, besonders gegen schwere Verläufe der Krankheit. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die am 16. Mai im Wissenschaftsmagazin «Nature» erschienen ist. Die Wissenschaftler erhoben die Daten gegen Ende 2020 – damals waren noch keine Covid-19-Impfstoffe verfügbar. Untersucht wurden 30'774 Testpersonen in Katar, die im Gesundheitswesen arbeiten.
Diejenigen unter ihnen, die kurz zuvor eine Grippeimpfung erhalten hatten, wiesen im Vergleich zu denen, die in letzter Zeit nicht gegen Grippe geimpft worden waren, ein um fast 90 Prozent niedrigeres Risiko auf, in den folgenden Monaten an einer schweren Form von Covid-19 zu erkranken.
In der ersten Phase der Corona-Pandemie, als die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 noch in Entwicklung waren, richtete sich das Augenmerk der Forscher noch stark auf die Frage, ob bereits bestehende Impfstoffe möglicherweise auch einen gewissen Schutz gegen das neue Virus bieten könnten. Allerdings ist es nicht einfach, einen solchen Effekt nachzuweisen: Personen, die sich gegen Krankheiten impfen lassen, sind eventuell auch eher bereit, noch weitere Massnahmen zu ergreifen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Dies könnte ihr Risiko, an Covid-19 zu erkranken, ebenfalls verringern.
Das Team der Epidemiologen an der Weill Cornell Medicine - Qatar (WCM-Q) in Doha versuchte, diese Stichprobenverzerrung dadurch zu minimieren, dass lediglich im Gesundheitswesen tätige Personen berücksichtigt wurden. In dieser Testgruppe dürften Unterschiede im Gesundheitsverhalten weniger ausgeprägt sein als in der Gesamtbevölkerung, wie die Studienautoren annehmen.
Die Epidemiologen fanden 518 Personen, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren, und verglichen sie mit mehr als 2000 Probanden, die ein negatives Testresultat aufwiesen. Es zeigte sich, dass die Wahrscheinlichkeit eines positiven Tests bei jenen Personen, die in dieser Saison eine Grippeimpfung erhalten hatten, um 30 Prozent geringer war als bei der Gruppe der ungeimpften Probanden. Das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung war sogar um 89 Prozent geringer, wobei die Anzahl der schweren Fälle in beiden Gruppen gering war.
Auch frühere Studien hatten bereits einen Zusammenhang zwischen Grippeimpfung und vermindertem Erkrankungsrisiko für Covid-19 festgestellt. Laut «Nature» hat etwa ein Team um Günther Fink, Epidemiologe an der Universität Basel, einen Zusammenhang zwischen Grippeimpfstoffen und einem geringeren Sterberisiko bei Patienten festgestellt, die in Brasilien mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Fink sagte dem Wissenschaftsmagazin, die Studie in Katar verringere die Wahrscheinlichkeit, dass andere Untersuchungen mit demselben Befund ein Zufall seien.
Auch Mihai Netea, Spezialist für Infektionskrankheiten am Radboud University Medical Center in Nijmegen (Niederlande), sieht in den Ergebnissen der Studie ein wichtiges Indiz: Die Beobachtung, dass Grippe-Impfstoffe nicht nur mit einer Verringerung der Coronavirus-Infektionen, sondern auch mit weniger schweren Krankheitsverläufen zusammenhängen, deute stark darauf hin, dass dieser Schutz tatsächlich gegeben sei.
Allerdings ist nicht geklärt, wie lange dieser Schutz anhält. So zeigte sich, dass bei jenen Probanden der Studie in Katar, die gegen Grippe geimpft waren und später an Covid-19 erkrankten, der Zeitpunkt der Infektion im Schnitt rund sechs Wochen nach der Impfung auftraten. Die Studienautoren gehen denn auch nicht davon aus, dass der Schutz durch die Grippeimpfung lange bestehen bleibt. Netea schätzt, dass er zwischen sechs Monaten und zwei Jahren wirksam sein könnte.
Wie Grippeimpfstoffe, die aus abgetöteten Influenza-Viren bestehen, überhaupt gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 schützen können, ist nicht völlig klar. Impfstoffe trainieren ja das Immunsystem darauf, spezifische Krankheitserreger zu erkennen und zu bekämpfen. Daneben scheinen sie aber auch eine breit angelegte antivirale Abwehr des Immunsystems anzuregen, wie Netea erklärt. Er hat derartige Reaktionen bei Personen festgestellt, die gegen Grippe geimpft wurden.
Netea und sein Team versuchen nun die Schutzwirkung, die Grippeimpfstoffe sowie Vakzine gegen andere Erreger gegen Covid-19 entfalten können, genauer zu quantifizieren. Zu diesem Zweck haben die Wissenschaftler eine randomisierte und placebokontrollierte Studie in Brasilien lanciert. Sie soll Impfstoffe gegen Grippe und gegen Masern-Mumps-Röteln (MMR-Impfstoff) auf ihre Wirksamkeit gegen das Coronavirus testen.
Auch wenn Impfstoffe gegen Grippe oder andere Infektionskrankheiten nur teilweise und lediglich für eine begrenzte Zeit vor Covid-19 schützen können, ist es von Vorteil, dieses Schutz-Potential zu nutzen – etwa im Falle einer künftigen Pandemie. Bevor ein Impfstoff gegen einen neuen Erreger entwickelt ist, könnten solche Vakzine gleich zu Beginn eingesetzt werden und den Schaden der Pandemie begrenzen – und zahlreiche Leben retten. (dhr)