Das steht in unserer Bundesverfassung. Ein Recht kann also die Freiheit aller postulieren, damit schafft es aber erst die Möglichkeit, etwas frei tun zu können. Das Ergreifen dieser Möglichkeit ist deshalb noch lange nicht jedem gegeben. Es ist abhängig von sozialen Begebenheiten. Ein Mensch, dem es am Existentiellsten fehlt, der Hunger leidet, ist nicht frei, sein Geist kann sich nicht Fragen der Selbstverwirklichung widmen. Er lebt nicht, er versucht zu überleben.
Die Freiheit ist also erst wirklich für den, der die materiellen und geistigen Güter besitzt, die als Voraussetzung der Selbstbestimmung gelten. Damit das möglichst jedem gelingt, sind die Grundrechte erweitert durch Artikel wie der 12., der besagt: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.»
Dazu kommt die Sicherung erworbenen Eigentums, ein weiteres Grundrecht unserer Verfassung. Diese Idee geht auf den englischen Arzt und Philosophen John Locke (1632–1707) zurück, den Vater des Liberalismus. Er plädierte für einen Staat, der neben dem Schutz seiner Bürger auch deren individuelle Freiheits- und Grundrechte garantiert. Er formulierte die Trias von Gewaltenteilung, Freiheit und Eigentum, die heute die Grundpfeiler einer liberalen Verfassung ausmachen.
Mit dem Recht auf privates Eigentum aber wird die natürliche und besitzbestimmte Ungleichheit der Menschen erst voll entfaltet. Lenin hat darauf mit der Beseitigung der liberalen Verfassung geantwortet. Allerdings zum Preise der Freiheit.
Und was, wenn wir diese auf keinen Fall aufgeben wollen? Dann müssen wir die zwei sich so schlecht vertragenden Charaktereigenschaften des Liberalismus irgendwie miteinander versöhnen.
Der Liberalismus will freie Selbstbestimmung des Individuums und er will, dass jeder in den Genuss dieser Freiheit kommt, weil alle Menschen vor dem Recht gleich behandelt werden sollen.
Nur sind die Menschen von Natur aus nicht gleich. Und am allerwenigsten ist ihr Eigentum gleich verteilt. Die Betätigung der gleichen rechtlichen Freiheit bringt also unterschiedliche Resultate, weil die genetischen Voraussetzungen der Menschen, ihre Interessen, ihre Energie und ihre sozialen Begebenheiten verschieden sind. Das alles schafft am Ende Ungleichheiten, die sich vermittels Garantie auf Eigentum und Erbrecht verfestigen. So sehr, dass soziale Ungleichheit in sozialer Unfreiheit münden kann.
«Die Feinde des Liberalismus empfinden die Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffs, die ihn auszeichnet, als Provokation ihres Weltverbesserungswillens – und dringen auf seine sozialmoralische Anreicherung. Und seine falschen Freunde verwechseln das Ideal der Selbstbestimmung, das ihn adelt, mit materieller Selbstbefriedigung – und verraten Authentizität und individuelle Freiheit ein Leben lang durch konfektionierten Konsum, berufliche Funktionalität und gesellschaftliche Selbsteinpassung. Offenbar sind wir alle zu schwach, um es auf Dauer mit der ambitionierten Gehaltlosigkeit des Liberalismus aufnehmen zu können.»
Dieter Schnaas in der Wirtschaftswoche.
In der Tat muss die Erfüllung des liberalen Versprechens auf weite Strecken unerreichbar bleiben. Es zerschellt allzu oft an den schroffen Klippen der Realität. Dennoch bleibt uns nicht viel anderes übrig als die aus der Freiheitsbetätigung ständig neu entstehende soziale Ungleichheit immer wieder einzuebnen. Das ist das Grundprinzip des Sozialstaates.
Denn wir haben uns dafür entschieden, die Menschengleichheit, die es nicht von Natur aus gibt, anzuerkennen. Sie ist Resultat einer moralischen Entscheidung nach einer langen Geschichte von Kriegen randvoll mit düsteren Kapiteln der Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung ganzer Völker und Gruppen. Nach diesen traurigen Erfahrungen haben wir unser modernes Menschenbild geformt: Dass jeder frei und gleich an Würde und Rechten geboren sein sollte.
Dieses primäre Wohlwollen gegenüber allen Menschen haben wir zu unserem Grundsatz erhoben. Im selben Atemzug mit der Freiheit. Das ist es, was den Liberalismus so verdammt schwierig macht. Er darf im Bestreben nach Gleichheit nicht den Freiheitsbezug verlieren und dadurch in einen Versorgungsstaat ausarten. Aber genauso wenig soll der freiheitliche Individualismus «alle Keime der Tugend» ersticken – wie es Alexis de Tocqueville bereits 1835 befürchtete. Freiheit heisst nicht, dass nur die Reichen und Privilegierten noch reicher und privilegierter werden.
Das ist die Herkulesaufgabe, die unser liberales System immer und immer wieder zu leisten hat.
Als Beispiel für das liberale Ringen zwischen Gleichheit und Freiheit kann die 2015 vom Volk mit 71% Nein-Stimmen abgeschmetterte Initiative «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV (Erbschaftssteuerreform)» gelten.
Sie forderte die Einführung einer nationalen Erbschafts- und Schenkungssteuer. Der Steuersatz auf Nachlässen und Schenkungen sollte 20 Prozent betragen, bei einem Freibetrag von 2 Millionen Franken. Nur zwei Prozent der Bevölkerung hätte dies betroffen, davon profitiert hätten jedoch alle über die AHV.
Der überwiegenden Mehrheit ging diese Umverteilungs-Vorlage dennoch zu weit. Sie muss zu sehr nach Enteignung geklungen haben. Nach einem Staat, der sich an Privatvermögen vergreift. Um am Ende doch nur seine Steuereinnahmen zu erhöhen.
Nach all dieser Theorie bin ich also zur Meinung gelangt, dass ein wahrer Liberaler eigentlich keiner ist, der nur die eigenen Interessen schützt und ökonomische Vorteile sammelt. So einen nennt man Egoist. Oder vielleicht zählt man ihn zu den Neoliberalen, um eines dieser politischen Schimpfwörter zu benutzen, das durch das Hin- und Herschmeissen schon so abgewetzt ist, dass es seine Merkmale verloren hat, an denen man es einmal erkannt hat. Es ist eins dieser Wörter, das aus dem Fenster der Wirtschaftswissenschaft herausgeworfen und vom Volk aufgefangen wurde, wo es jetzt ganz nach Belieben auf dem freien Markt der Interpretationen feilgeboten wird.
Nun, ich verwende es hier mal so, wie ich glaube, dass man es gemeinhin versteht: Als Schimpfwort für einen Menschen, der in der globalisierten Welt, die eine von wachsender Ungerechtigkeit ist, von der Verteidigung der Freiheit faselt, einer, der in einer Welt der knappen Ressourcen und staatlichen Billiardenschulden von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand spricht, einer der den freien Markt für ein göttliches Prinzip hält und Zölle als persönlichen Angriff versteht – ausser sie nützen seinem eigenen Unternehmen. Wohnen tut er irgendwo in einem aufgewerteten, völlig überteuerten Trendquartier in Zürich.
Und dann sind da noch seine Nachbarn. Sie reden zwar nicht von ökonomischem Wachstum, überhaupt reden sie wenig von der Ökonomie. Sie sind nur ihre Konsumenten. Sie buchen ihre Ferien über Airbnb, weil ihnen der Gedanke vom Teilen so gut gefällt. Oder wie sie sagen: vom Sharen. Sie fahren mit dem Velo zur Arbeit. Und am Abend radeln sie in ihre Yoga-Stunde. Das tue ja so gut, sagen sie, für die Entspannung. Sich einfach mal aufs pure Dasein konzentrieren, sich gehen lassen. In den Körper hineinhören. Doch leider verinnerlichen sie da keine fernöstliche Weisheit, sondern nur die sehr nahe westliche Effizienz. Damit sie am nächsten Tag wieder gute Arbeit leisten können. Damit sie möglichst gut funktionieren.
Und da bin auch ich. Ich mache zwar kein Yoga, aber ich bestelle Schuhe im Internet. Ich habe die Werbung gesehen von diesen irrsinnig famosen Schuhen. Sie hat sich einfach zwischen zwei Instagram-Posts geschoben. Und als das Paket vor meiner Haustüre steht, sehe ich erst, woher es gekommen ist. Aus China. Die Schuhe wurden über die halbe Welt verschifft. Für 50 Dollar. Aber Hauptsache ich kombiniere sie mit einem Fair-Trade-T-Shirt, das ich vom Flohmi hab – wegen der Nachhaltigkeit.
Ich glaube nicht, dass man dem Konsum wirklich entkommen kann. Wir sind alle von der Gattung Homo oeconimicus. Und solange der Putz unserer geschmackvoll renovierten Altbauwohnungen nicht bröckelt, sehen wir auch nicht, dass darunter die ärmliche Tapete irgendeiner Familie liegt, die hier gewohnt hat, als die Strasse noch nicht verkehrsberuhigt und die Miete noch zahlbar war.
Die Gentrifizierung ist ein grosses Problem, weil es zu wenig günstigen Wohnraum gibt, auf den weniger einkommensstarke Menschen ausweichen können. Ich kann also in meiner teuren Wohnung hocken und sagen, dass ich es schliesslich verdient habe, hier zu sein. Dass mir der Staat auch nie was geschenkt hat. Oder ich kann dort hocken und sagen: Während ich in einer Wohnung mit vier Zimmern sitze, zwängt sich eine Familie irgendwo in zwei rein. Denn je grösser meine eigene Freiheit ist, umso kleiner muss die eines anderen sein.
Das heisst nicht, dass ich deswegen umziehe. Es heisst nur, dass ein wahrer Liberalist theoretisch die Gleichheit der Menschen verfechten sollte, denn diese ist letztlich die Bedingung für seine eigene Freiheit.
Wow. Ich klinge wie eine super nervige Idealistin. Eine Gerechtigkeitsverfechterin. Offenbar bin ich das auch. Denn da gibt es andere Dinge, in deren Namen der Staat unsere individuelle Freiheit beschränkt. Schwerer nachvollziehbare, wie ich finde. Die Sicherheit zum Beispiel. Und die Gesundheit. Aber das wollen wir aufs nächste Mal verlegen.