Der Genfer Philosoph meint mit Freiheit die Nutzung des eigenen Willens. Auf diesen zu verzichten würde nichts Geringeres bedeuten, als seiner Natur zu entsagen. Es ist also unsere Pflicht als Menschen, ihn auch zu benutzen, uns nicht einfach führen zu lassen. Schliesslich haben wir uns nicht umsonst gegen die Gesslers dieser Welt gestemmt!
Aus freiem Willen haben die Schweizer sich zusammengeschlossen. Wir sind eine Willensnation und unser gemeinsamer Wille richtet sich heute wie damals vor allem auf eines: unsere Freiheit. Und mögen die kühnen Schlachten und Kämpfe unserer Vorfahren für Freiheit und Unabhängigkeit auch ein Mythos sein, Wirkungsmacht haben sie trotzdem entfaltet.
Die alten Geschichten von heroischen Helvetiern prägen seit Jahrzehnten unser Selbstbild, sie sind unser kulturelles Erbe und sie werden immer wieder gern politisch ausgeschlachtet – Fiktion hin oder her.
Wir ertragen die Vorstellung eines übermächtigen Staates nicht, wir lieben unsere kleinflächigen Strukturen, in denen wir selbst bestimmen können. Wir sind Föderalisten in einem nichtzentralisierten Land. Und die Freiheit ist das Heiligtum, das wir mit unseren Fäusten verteidigen.
Darauf ist wohl dieser generelle Schweizerische Abwehrreflex gegen den Staat zurückzuführen. Wenn dieser wieder einmal so väterlich von oben in unsere Freiheit hineinfingern will. Das macht er im Namen der Gerechtigkeit (vgl. Teil II), aber auch im Namen der Sicherheit – oder unserer Gesundheit zuliebe, die von der Tabak- und Zuckerindustrie bedroht wird.
Die vom Neuenburger Parlament gewünschte Zuckersteuer wurde von National- und Ständerat im Frühling dieses Jahres klar abgelehnt. Dem neuen Nachrichtendienstgesetz haben wir 2016 allerdings mit deutlichen 65,5 % zugestimmt.
Die Schweizer wünschen sich offenbar beim Thema Übergewicht und Gesundheit Eigenverantwortung und setzen lieber auf Aufklärung als auf staatliche Massnahmen. Für unsere Sicherheit aber darf der Geheimdienst nun unsere Telefone abhören, unsere Zimmer verwanzen und in unsere PCs eindringen, sprich, in unsere intimsten Bereiche vorstossen.
Dieser Entscheid ist wohl in hohem Masse der vorherrschenden Angst vor Terror geschuldet. Denn, so mag man sich denken, wenn wir nicht mehr sicher sind, dann verlieren wir unsere Freiheit sowieso.
Für das Gefühl von Sicherheit lässt sich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung also in ihre Privatangelegenheiten linsen.
Und damit sind wir auch schon wieder bei der eigentlichen Uraufgabe des Staates angelangt: Er muss den Frieden wahren. Durch Armee, Polizei und nun eben auch durch einen mit sehr weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Geheimdienst soll er für die Sicherheit seiner Bürger sorgen.
Ist dieser Staat unser Feind?
In erster Linie ist er das genaue Gegenteil. Er ist der Hüter unserer Freiheit. Er ist die Instanz, die Recht festlegt und dessen Befolgung sichert. Denn ausserhalb dieser Ordnung, ausserhalb dieser möglichst gewaltfrei gehaltenen Zone, ist überhaupt keine Freiheit möglich (vgl. Teil I).
Die Frage ist nur, wie man Sicherheit definiert – und ob man sich nicht sicher oder bereits bevormundet fühlt.
Wir können also nicht ohne den Staat, sonst verlören wir unsere rechtlich garantierte Freiheit. Da er dadurch aber in einer sehr starken Position ist, muss sein Handeln auch stets auf Freiheit hin orientiert bleiben.
Gewährleistet wird diese Orientierung auf die Freiheit durch die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte, die freie Presse und die politische Teilnahme der Bürger am staatlichen Leben.
Ist dieser Staat unser Feind?
Ernst-Wolfgang Böckenförde, seines Zeichens ehemaliger Richter des deutschen Verfassungsgerichts und Rechtsphilosoph, meint, dass dieser Dualismus von Gesellschaft und Staat, der für ein solches Feindbild nötig ist, im Grunde überholt sei. Denn da ist nicht einfach der über alle Köpfe hinweg entscheidende Staat auf der einen und die befehlsempfangende Gesellschaft auf der anderen Seite. Das war im Spätabsolutismus so, als das Königtum mit seinem Beamtenstab und dem Heer den Staat alleine trug und vom Bürgertum institutionell getrennt war.
Heute aber sind Staat und Gesellschaft viel enger miteinander verbunden, ein Staatsbeamter ist immer auch Teil der Gesellschaft. Zwischen den beiden besteht eine Wechselbeziehung – und vor allem ein Konsens. Ohne diesen wäre ein Staat nicht wirkungsmächtig.
Der Grad dieses Konsenses ist abhängig von der jeweiligen Staatsform und ihrer Ausgestaltung. In der Schweiz mit ihrer halbdirekten Demokratie müsste er ziemlich hoch sein, während er in Nordkorea gegen Null tendiert. Ganz entbehren kann ihn jedoch nicht einmal eine Diktatur.
In totalitären Staaten ist die staatliche Zuständigkeit unbegrenzt, sie reicht mitten hinein in die privaten Lebensräume des Individuums. Laut Hannah Arendt macht genau dies den flächendeckenden Terror aus: Die Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem lösen sich gänzlich auf, und die totale Gewalt zerstört sogar die intimsten zwischenmenschlichen Bande. Im Dritten Reich geschah dies durch die gesetzliche Regulierung von Eheschliessungen, das Ausspionieren und Denunzieren von Nachbarn, Freunden und Familienmitgliedern.
Ein solcher Staat ist nur noch das Vollzugsorgan einer Partei oder einer Gruppe, und hat seine Ausrichtung auf die Allgemeinheit vollends verloren.
In einem demokratischen System aber muss sich am Ende alle Entscheidungsgewalt aufs Volk zurückführen lassen. Im Grunde heisst das: Die Gesellschaft ist auch der Staat. Aber eben nicht in allen Bereichen. Die Religions- und die Meinungsfreiheit beispielsweise sind individuelle Freiheiten, in die der staatliche Regulierungsarm möglichst nicht hineingreifen sollte.
Dann wiederum gibt es notwendig staatliche Aufgaben wie das Rechtswesen, oder öffentliche Aufgaben, die staatlich organisiert sein können, aber nicht müssen. Hierzu gehören beispielsweise das Spital- oder das Schulwesen und die Pflege und Einrichtung von Spielplätzen.
Wir brauchen die Unterscheidung Gesellschaft vs. Staat also, um unsere gesellschaftlichen und individuellen Freiheiten vom staatlichen Aufgabenbereich zu trennen.
Wir kommen so in den Genuss einer politischen Freiheit, die darin besteht, wählen zu dürfen, und einer bürgerlichen Freiheit. Ohne diese zweite Freiheit herrschte die totale Demokratie, in ihr würden stets alle über alles beschliessen. So ähnlich ging das im antiken Griechenland zu und her, wo jeder als «Idiot» (griech. idiotes, nicht wertende Bezeichnung für einen Privatmann) galt, der sich aus den Angelegenheiten der Polis heraushielt oder keine politischen Ämter wahrnahm.
Bei uns herrscht kein Zwang zur politischen Teilnahme, wir sind frei. Und zwar im demokratischen Prozess (wen wählen wir, wofür stimmen wir?) wie auch gegenüber diesem (will ich wählen/abstimmen oder nicht?).
Dadurch, dass wir nicht mehr nur in einem Rechtsstaat, sondern ebenso in einem Sozialstaat leben, hat die Interventionsfreude des Staates notwendigerweise zugenommen. Er versucht zu regulieren, auszugleichen und umzuverteilen, um soziale Ungleichheiten möglichst zu beseitigen.
Er muss das tun, weil sonst die rechtlich garantierte Freiheit für viele Menschen zum leeren Versprechen würde. Um frei leben zu können, muss auch eine gewisse finanzielle Sicherheit gewährleistet sein. Und hier wären wir wieder beim Grundproblem unseres liberalen Systems angelangt: der Ausbalancierung von Gleichheit und Freiheit (vgl. Teil II). Denn die vor allem wirtschaftliche Freiheitsbetätigung schafft immer wieder neue Ungleichheiten und der Staat muss diese möglichst ausgleichen. Seine Aufgabe ist es, die individuelle und gesellschaftliche Freiheit genauso real zu halten wie die rechtliche Gleichheit.
Staatliche Eingriffe sind also im Einklang mit unserer Verfassung, solange sie im Bestreben vorgenommen werden, den allermeisten Gliedern der Gesellschaft zu einem freien Dasein mit den gleichen Chancen zu verhelfen. Dabei ist die Massbestimmung entscheidend. Weder ein reiner Wohlfahrtsstaat noch ein dem Prinzip des Laissez-faire folgender Nachtwächterstaat sind die Lösung.
Und bei dieser Massfrage scheiden sich für gewöhnlich die Geister: Manche sehen im Rauchverbot auf den Perrons der SBB eine Bevormundung im Namen der Gesundheit, andere erleben es als Beschneidung ihrer Freiheit, wenn sie fremden Zigarettenqualm in die Nase bekommen.
Unerlässlich scheint mir bei der ganzen Sache, dass staatliche Bestimmungen stets die Freiheit im Sinne haben. Folgt der Staat stattdessen irgendeinem weiterreichenden politischen Ziel, wird es gefährlich. Seine Handlungen müssen möglichst gesinnungsfrei sein. Denn sobald er eine klare Gesinnung verrät, die über die Verfassungsgrundsätze hinausgeht, ist er schwach. Und wenn er schwach ist, ist es ebenso die Gesellschaft, die er in sich organisiert.
Eine solche Gesellschaft ist nicht mehr konsensfähig. In ihr walten zu viele Widersprüche, sie erträgt die Freiheit nicht mehr. Das müssen wir unbedingt verhindern. Und zwar möglichst ohne unsere Freiheit dafür zu opfern. Gesetze, die aus einer bestimmten Gesinnung heraus entstehen, sind ganz sicher nicht die Lösung. Damit bringen wir uns bloss selbstverschuldet in die Unmündigkeit zurück. Ebenso wenig dürfen durch gescheiterte Integration «Parallelgesellschaften» entstehen, die dann nach ihren eigenen Regeln leben. Und bisher haben wir das in der Schweiz doch ganz gut hingekriegt.
Dafür brauche ich aber kein Burkaverbot in unserer Verfassung noch eine Gesellschaft, die das Verurteilen von «Tätern» und Beschützen von «Opfern» selbst übernommen hat und mit Hashtags und Shitstorms ihre schablonenhafte Empörung im Stundentakt ins Internet körbelt.
Was ist das nur für eine Gesellschaft, die mit jedem Kopftuch den Untergang des Abendlandes näherrücken sieht und hinter jedem Witz eine rassistische Beleidigung wittert?
Die einen wollen die Freiheit aus Angst, die anderen wollen sie im Namen der Korrektheit beschneiden. Ja, wir sind verschieden. Darum müssen wir uns verständigen. Oder sind wir vor lauter individualistischer Entfaltung unfähig geworden, auch Gattungswesen zu sein? Was ist nur aus dem guten alten «leben und leben lassen» geworden?
Wir müssen wieder konsensfähig werden!
Das ist wohl die grosse Herausforderung unserer pluralistischen Gesellschaft.
Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts hat versucht, homogene Gesellschaften herbeizuideologisieren, er verkündete eine Leitkultur und eine Leitgruppe, an die sich der Rest angleichen musste. Wo das hingeführt hat, wissen wir. Andererseits scheint es schwer vorstellbar, eine Gesellschaft zu vereinen, wenn sie vor lauter Gegensätzen keinen gemeinsamen Wertehorizont mehr teilt.
Und was sollen diese vielbeschworenen Werte überhaupt sein? Was eint uns noch?
Hach.
Alles ist so schwierig.
Darum gönnen wir uns doch eine Pause und wenden uns den Werten im nächsten Teil zu.