Ich will ganz ehrlich sein zu euch. Bevor ihr mir auf dieser streckenweise mühseligen Reise folgt, muss ich euch etwas gestehen. Vieles, wovon ich hier schreiben werde, gehört nicht zu meiner Kernkompetenz. (Das ist die Vergangenheit. Also vorrangig das erste nachchristliche Jahrhundert. In Rom. Als die die julisch-claudischen Kaiser regierten. Na gut, sagen wir, als Nero am Drücker war.) In einer Welt voller Experten hab ich das Bedürfnis, euch das mitzuteilen.
Aber ich habe mich anständig ins Thema eingelesen. Und ich glaube es ist eines, das uns alle etwas angeht – Experte hin oder her. Also lasst uns zusammen ein bisschen über die Freiheit nachdenken.
Und zwar sagenhafte vier Artikel lang.
Wir beginnen am Anfang.
Also wirklich.
Bei Adam und Eva ...
Nach der biblischen Schöpfungsgeschichte hat Gott den Menschen als letztes erschaffen. Nichts blieb übrig, jedwedes Talent hat er schon vergeben an die anderen Lebewesen. Auch bekam der Mensch keinen klar zugewiesenen Platz mehr im Gefüge des Universums, alles war bereits voll.
Darum habe Gott ihn in die Mitte der Welt gesetzt und zu ihm gesagt:
«Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, o Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt. Du sollst dir deine Natur ohne jede Einschränkung, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.»
Aus Pico della Mirandola, 1496
So sieht es zumindest der Humanist Pico della Mirandola in seiner Rede «Über die Würde des Menschen». Er war gerade mal 23 Jahre alt, als er dem Renaissance-Menschen diese für ihn noch grundlegend neue Freiheit verkündete. Dessen Leben sollte nicht mehr länger durch die Erbsünde belastet, kein langer Gang durchs finstere Tal der Leiden sein, von dem ihn einzig die göttliche Gnade erretten kann. Laut Pico ist er imstande, sich selbst zu erlösen. Er hat die Wahl: Entweder «entartet er zum Niederen, zum Tierischen», oder wird zum Göttlichen, nach dessen Abbild er erschaffen worden war.
«Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.»
Pico della Mirandola, 1496
Diese Freiheit ist es, die dem Menschen Würde verleiht und heute als grundlegendes Menschenrecht gilt. In Zeiten, in denen Gott die Welt noch zu ordnen pflegte, war diese Würde auf der Gottes-Ebenbildlichkeit des Menschen gegründet, in säkularen Staaten dann fehlte dieser theologischer Rückgriff, und man berief sich auf die Wertauffassungen der Gesellschaft. In modernen liberalen Verfassungen wird die Freiheit stets als oberster Wert definiert.
Denn in Freiheit soll sich der Mensch selbst bestimmen.
Nun ist diese Freiheit aber kein Gut, das einem von Natur aus gegeben ist. Zumindest nicht allen. Natürlicherweise gilt das Recht des Stärkeren, dann herrscht, wie Thomas Hobbes sagte, ein «Krieg aller gegen alle». Es gibt keinen freien Naturzustand des Menschen, keinen universalen Raum, in dem er frei ist.
Freiheit ist ausserhalb der Ordnung nicht zu verwirklichen. Immer sind bereits Machtverhältnisse da, die Freiheit kommt niemals allen zu gleichen Teilen zu.
Deshalb postuliert der moderne Rechtsstaat neben der Freiheit auch die Gleichheit aller Menschen. Er ist es erst, der diese gleiche Freiheit für alle überhaupt garantieren kann. Der Staat ist die Voraussetzung für die Freiheit – selbst wenn wir ihn heute immer wieder als deren grössten Feind ansehen.
Die Menschenrechtserklärung von 1948 verkündet:
Hier stossen wir erstmals auf die «Rechte»: Die Freiheit und Gleichheit der Menschen müssen als Rechte formuliert und anerkannt werden, damit sie überhaupt Bestand haben. Und diese Rechte wiederum zu garantieren, ist Aufgabe des Staates. Seine dringlichste Aufgabe ist es, den Frieden zu wahren. Durch sein Gewaltmonopol in Form von Armee und Polizei muss er für die Sicherheit der Bürger sorgen, denn ohne sie ist überhaupt keine Freiheit möglich.
Wenn der Mensch irgendeiner Form von Gewalt oder Zwang ausgesetzt ist, ist er unfrei. Das darf weder durch einen übermächtigen Staat noch durch einen anderen Bürger geschehen. In der Déclaration des droits von 1789 ist die Freiheit folgendermassen definiert:
Es ist eine negativ definierte Freiheit, sie enthält die subjektive Freiheit, die dort aufhört, wo die eines anderen beschränkt wird. Sie begrenzt also die Freiheit des einzelnen Menschen zum Wohle aller. Was aber der Inhalt dieser Freiheit sein soll, darüber schweigt sie.
Das ist Aufgabe der sogenannten objektiven oder positiven Freiheit: Sie legt die Ziele des Freiheitsgebrauchs fest. Diese sollen gemeingesellschaftlich gelten, und allen den Weg zur Verwirklichung der Freiheit aufzeigen. Eine höchst paradoxe Angelegenheit: Gerade in der staatlichen Festschreibung der Freiheitsinhalte soll die Freiheit gelebt werden können.
Diese objektive Freiheit ist es, die uns jede Menge Probleme aufhalst. Denn seit die Kirche nicht mehr die metaphysische Bestimmung des Menschen übernimmt, müssen wir das selbst tun. Darüber klagt der Existenzphilosoph Jean-Paul Sartre, wenn er sagt, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei. Die Existenz sei völlig sinnlos, schreibt er, der Mensch finde sich zufällig und ungefragt in die Welt geworfen.
Nur ist er nicht allein. Im besten Fall hat er Familie, Freunde, immer aber hat er eine Gesellschaft, die ihn umgibt. Er wächst mit gewissen Wertvorstellungen auf, eignet sich im Laufe seines Lebens ein Weltbild an. In einer pluralistischen Gesellschaft können die einzelnen Vorstellungen allerdings weit auseinandergehen, sich sogar widersprechen.
Wie soll man also aus einer solchen Vielfalt von verschiedenen Menschen objektive Freiheitsbestimmungen herleiten?
Immanuel Kant hat dafür die Vernunft genommen. Die, so nahm er an, sei allen Menschen angeboren, das untrügliche Element, an dem das Menschsein festzumachen sei und die die Menschen, so verschieden sie auch sein mögen, verbinde.
Aus diesem Gedanken ist dann auch sein berühmter Kategorischer Imperativ entsprungen: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» Nach Kant ist die Anwesenheit von Zwang und Freiheit im Staat nur möglich, wenn wir gleichzeitig die Urheber der Gesetze sind, denen wir unterstehen. Dies wird in einer Demokratie weitgehend ermöglicht durch die politische Teilhabe der Bürger am staatlichen Leben.
In einem Rechtsstaat ist man also insofern frei, als dass man durch die Einhaltung der Gesetze letztlich den eigenen Entscheidungen folgt. Nur so wird das Fremde, der Staat und dessen Gesetze, zum Eigenen und der einzelne Wille zum Gemeinwillen.
Kant dachte seine Gedanken im 18. Jahrhundert. Was nach ihm folgt, ist ein gewaltiger Siegeszug der Vernunft, die Naturwissenschaften erobern die Welt, vergegenständlichen sie, drücken sie in Formeln aus, um sie kühl berechnen zu können. Die geheimnisvollen Mächte verschwinden, Geister gibt es keine mehr, Zauber und Magie werden verlacht, die Logik und die industrielle Mechanik regieren. Und sie regieren so eisern, dass auch der Mensch bald nur noch eine Zahl ist, als Kriegsmaterial eingesetzt auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges.
Und kaum ist der Pulverdampf über Europa verraucht, steht im Schatten des «Versailler Schmachfriedens» ein Mann auf, der die zerschmetterte Selbstachtung der Deutschen wieder aufzurichten gedenkt. Hitler und seinen Nationalsozialisten gelingt es, einen totalitären Staat aufzubauen, der den Menschen wieder Sicherheit verspricht – allerdings zum Preis der Unterwerfung. Aller Freiheit enthoben unterwarf sich diese «Volksgemeinschaft» der absoluten Wahrheit eines faschistischen Staates. Eine Wahrheit, die mittels scheinwissenschaftlicher Theorien wie der Rassenkunde verkündete, dass Juden Untermenschen seien. Und an deren Ende die Konzentrationslager standen.
Am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Auf dass eine solche Barbarei nie wieder geschehen sollte.
Die Vernunft hatte versagt in diesem dunklen Jahrhundert. Der gesunde Menschenverstand hatte versagt. Das Kranke war im Dritten Reich zum Gesunden geworden, ein Mord war da kein Mord mehr, sondern eine «Sonderbehandlung». Die Begriffe «gut» und «böse» wurden in ihr Gegenteil verkehrt.
Kant können wir also vergessen. Auch die Vernunft ist kein Garant dafür, dass der Mensch eine anständige Welt erschafft. Dass er «gute» Gesetze aufstellt.
Ausserdem zimmern wir in jedem Zeitalter ein neues Menschenbild zusammen und keines davon ist objektiv, jedes ist ideologisch angehaucht und keines kann ewige Gültigkeit für sich beanspruchen: Weder das humanistische noch das sozialistische oder das liberale, von dem wir heute in den westlichen Rechtsstaaten geprägt sind. Die Freiheit ist es, die aktuell an oberster Stelle steht.
Nur fragt sich, wie mit dieser Freiheit genau verfahren werden soll. Woran wir uns halten sollen, wenn wir gemeinschaftlich die Ziele für unsere Freiheit festlegen wollen.
Ein Beispiel für eine solche objektive Freiheitsfestlegung durch den Staat ist die in der Schweiz geltende Allgemeine Schulpflicht. Diese wird von der grossen Mehrheit der Bürger begrüsst, man empfindet Bildung für die Selbstbestimmung als wesentlich.
Was aber bedeutet Bildung genau? Gehört Religionsunterricht dazu? Und wenn ja, wird in den Schulen nur von Jesus oder auch von Mohammed gesprochen? Soll die Kantine veganes Essen führen? Lehrplan 21, ja oder nein? Oder hat das humanitäre Bildungsideal sowieso längst ausgedient und wir sollten unsere Kinder nicht länger zum Objekt unserer Erziehungs- und Bildungsmassnahmen machen, damit sie wieder eigenständig denken und lernen können?
Will ich mein Kind nicht sowieso lieber in eine Privatschule schicken, wo das Niveau meinem Sprössling angemessen erscheint? Doch leiste ich damit nicht der Tendenz Vorschub, dass Bildung zu einem Privileg der Wohlhabenden wird?
Fragen über Fragen. Und alle bewegen sich auf diesem schmalen Grat, auf dem der Staat seinen Eiertanz um die Freiheit tanzt. Garantiert er die Freiheit noch oder schränkt er sie schon zu sehr ein? Sorgt er noch im rechten Mass für das Wohl der Gemeinschaft oder zwingt er dem Einzelnen bereits eine bestimmte Weltanschauung auf?
In totalitären Staaten ist die individuelle Freiheit auf ein Nichts zusammengeschrumpft, während die objektive Freiheitsordnung zur reinen Wahrheitsordnung wird. Welch verheerende Auswirkungen dies haben kann, sah man im Dritten Reich, in Stalins Sowjetunion – und kann man noch im heutigen Nordkorea sehen.
Der Mensch ist immer Individuum und Sozialwesen zur gleichen Zeit, mit eigenen Meinungen, einem selbst erwählten Freundeskreis und einem Beruf, immer steht er in der Gesellschaft und versucht in dieser, sein eigenes Wesen zu verwirklichen. Es geht also darum, die objektiv gesellschaftliche und die subjektiv individuelle Freiheit in einem ausgewogenen Verhältnis zu behalten, so dass man als selbstbestimmtes Individuum in einer Gesellschaft mit möglichst vielen anderen freien Individuen leben kann. Das wäre zumindest der Idealfall.
Die Vermittlung zwischen den beiden notwendigen Elementen der Freiheit geschieht durch den politischen Prozess der Gesetzgebung. In der Schweiz wird dieser durch eine Partei, einen Verband, den Bundesrat oder die Kantone angestossen. Sie initiieren einen neuen Erlass, der dann vom Parlament überprüft wird. Wenn ihm beide Räte zustimmen, erlangt das Gesetz Gültigkeit. Ausser der Beschluss macht eine Änderung der Bundesverfassung nötig – dann braucht er zusätzlich das Volks- und Ständemehr, um in Kraft zu treten.
Auf diese Weise werden Traditionen verabschiedet und neue Einstellungen aufgenommen. Ethische oder sittliche Anschauungen in verbindliche Paragraphen übersetzt. Recht konserviert damit immer den allgemeinen Zeitgeist einer Gesellschaft.
Aktuell geschieht das mit der «Ehe für alle» – der parlamentarischen Initiative der GLP. Nach jahrhundertelanger Stigmatisierung und Pathologisierung von Schwulen und Lesben durch die christlich geprägte Weltanschauung, die darin teilweise noch heute einen Widerspruch zum Willen Gottes sieht, nähern wir uns allmählich einer wirklichen Gleichstellung zwischen homo- und heterosexuellen Menschen. Alle Menschen sollen die Freiheit haben dürfen, zu heiraten. Und während unser Parlament noch über den Paragraphen brütet, geben sich gleichgeschlechtliche Paare im katholischen Irland bereits das Ja-Wort.
Die Sache ist juristisch komplex. Es geht nicht nur um den Gang zum Standesamt, es geht auch um die Adoption, die damit homosexuellen Paaren offenstünde; um Fragen von der erleichterten Einbürgerung bis hin zur Fortpflanzungsmedizin. Und Letzteres würde in den Bereich der Verfassungsänderung fallen, was in der Schweiz zwingend eine Volksabstimmung nach sich zieht.
«Die Ehe für alle» wirft einmal mehr die Frage auf, wen wir dann davor mit «allen» gemeint haben, wenn der Artikel 8 der Grundrechte unserer Bundesverfassung besagt: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.» Das ist eben der Punkt. Es sind nicht alle Menschen gleich, aber sie sollten vom Gesetz gleich behandelt werden und in den Genuss derselben Freiheiten kommen.
Man mag mir an dieser Stelle vorwerfen, ich sei ein verblendeter Dummkopf, der sich den Weltfrieden wünscht. Ich weiss, dass die Realität eher so aussieht, wie sie George Orwell in seiner dystopischen Fabel Animal Farm (1945) beschrieb, als er seine Schweine hinter den Satz «All animals are equal» den Zusatz «but some animals are more equal than others» schreiben liess. Und diese Schweine haben das zu allem Übel auch noch Kommunismus genannt.
Mir ist durchaus bewusst, dass die Menschengleichheit ein von Menschen gemachtes Konzept ist, dass es darum fehlerhaft und niemals ideal ist. Aber nur weil wir den Idealzustand niemals erreichen, heisst das nicht, dass wir aufhören sollten, ihn anzustreben. Diesen Idealismus hab ich mir gerade noch in meine 30er Jahre hinüberretten können. Ich brauche ihn, damit der Gedanke daran, einmal Kinder zu haben, überhaupt einen Sinn ergibt.
Vor allem aber kann ich ihn mir leisten. Weil ich in einer Welt gross geworden bin, die mir die grösstmögliche Freiheit ermöglicht hat. Denn ich bin eine von denen, die das Recht hat, Rechte zu haben. Ich bin privilegiert. Und weil mir bei der Meinungsbildung nichts wichtiger erscheint, als den eigenen Standpunkt genau zu kennen, wollen wir das nächste Mal von der realen Freiheit und der Ungleichheit der Menschen reden.